Dr. Bernd Fabritius

Dr. Bernd Fabritius

Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten

Laudatio zur Verleihung des Franz-Werfel-Menschenrechtspreises an Joachim Gauck, Bundespräsident a.D. Frankfurt am Main, 4. Juli 2021

Sehr geehrte Damen und Herren,

sehr geehrter Herr Bundespräsident,

sehr geehrte Frau Schadt

es ist für mich eine große Ehre, die würdigenden Worte zur heutigen Verleihung des Franz-Werfel-Menschenrechtspreises an Bundespräsident Joachim Gauck sprechen zu dürfen. Dafür danke ich dem Vorsitzenden der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen, Dr. Christean Wagner, sowie dem Schirmherrn des heutigen Festaktes, Ministerpräsident Volker Bouffier.

Sehr geehrter Herr Bundespräsident Gauck, als wir vor zwei Wochen gemeinsam an der Eröffnung des Dokumentationszentrums der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin teilnahmen, haben wir wohl beide die Geschichtsträchtigkeit jener Stunde verspürt. Dieser Ort wird ein Ort der Erinnerung und Versöhnung, aber sicher auch der konstruktiven Debatten und der kritischen Betrachtung zukünftiger Entwicklungen sein.

Ihre Teilnahme war ein Eintreten dafür, dass den Menschen der Raum für Erinnerung – sei es die individuelle, sei es die kollektive – gegeben werden muss. Erinnerung, deren sicht- und greifbare Projektion in der Gegenwart und die daraus erwachsende Kraft für die Zukunft sind einer der fundamentalen Stränge des menschlichen Daseins.

Es liegt mir fern, den Begriff der Menschenrechte auf alles auszudehnen, was gerade opportun erscheint – gerade deshalb betone ich jedoch, dass es eines jeden Menschen Recht ist, einen geeigneten, im besten Fall staatlich legitimierten Ort für die Erinnerungspflege vorzufinden.

Es ist nun über 20 Jahre her, dass die Debatte um eine Vertriebenen-Gedenkstätte in Berlin erstmalig wahrnehmbar Schwung aufnahm. Es war Joachim Gauck, der von Anfang an seine Unterstützung für das Zentrum gegen Vertreibungen öffentlich bekundete.

Sehr geehrter Herr Gauck, Sie haben von Beginn an gespürt, wie fundamental und wie notwendig ein solcher Erinnerungsort für die deutschen Flüchtlinge und Vertriebene ist.

Es widersprach Ihrem Grundverständnis von Würde und Recht, diesen Menschen und ihren Nachkommen ein sichtbares Zeichen staatlichen Gedenkens für das erlittene Leid und Unrecht zu verweigern!

Sie gehörten – damals wie heute – zu den prominenten Mitstreitern der Arbeit des ZgV, des Zentrums gegen Vertreibungen.

Damit definierten Sie ein Fundament der Legitimität für den sehnlichen Wunsch der Vertriebenen und Flüchtlinge, der Aussiedler und Spätaussiedler, nach einem Gedenkort für das eigene – persönliche wie auch kollektive – Leid, das neben vielen anderen auch einen der Schicksalsstränge gesamtdeutscher Geschichte darstellt.

Sehr geehrter Herr Bundespräsident Gauck,

es war mir wichtig, diese Ausführungen rund um das Dokumentationszentrum der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung an den Beginn Ihrer Würdigung zu stellen.

Nicht nur, weil sie das aktuelle Geschehen in Berlin aufgreifen, sondern vor allem, weil sie eine prägende Nuance Ihres Handelns, Ihres Wertekompasses und Ihrer Persönlichkeit verdeutlichen: der Name und der Mensch Joachim Gauck werden in der allgemeinen Wahrnehmung verbunden mit dem Gespür für Freiheit sowie für Recht und Gerechtigkeit, mit dem Einsatz für die Benachteiligten und Unterdrückten, mit dem Aufbegehren gegen staatliches, kollektives und individuelles Unrecht. Mit diesen Attributen und Zuordnungen, sehr geehrter Herr Gauck, gehen Sie bereits zu Lebzeiten in die Geschichte ein.

Daran konnten auch die diplomatischen Zwänge, denen Sie sich im Laufe Ihres Lebens in unterschiedlichem Ausmaß unterwerfen mussten, nur wenig ändern.

Etwas losgelöst, aber doch bewusst an dieser Stelle und in diesem Kontext erinnere ich an die Worte des deutschen Philosophen Max Scheler:

„Es genügt unter Umständen eine einzige Handlung oder ein einziger Mensch, damit wir in ihm das Wesen dieser Werte erfassen können.“

Nehmen Sie bitte den Preis, der Ihnen heute verliehen wird, auch als Anerkennung Ihrer Haltung entgegen – denn sie hat den Menschen Mut gemacht und bei so manchem die Zweifel daran besiegt, dass Recht und Würde Universalwerte sind.

Mit dem Gewicht Ihres Wortes in der bundesdeutschen Gesellschaft und über unsere Ländergrenzen hinweg traten Sie den Revanchismusvorwürfen oder gar Unterstellungen hinsichtlich möglicher Gebietsrückforderungen immer wieder entschieden entgegen.

Ich erinnere einmal mehr an die Eröffnung der Ausstellung „Erzwungene Wege“ im Berliner Kronprinzenpalais im Jahr 2006, die sich übrigens als erfolgreiche Nagelprobe für die Konzeption weiterer Ausstellungen des ZgV darstellen sollte, wo Sie aus tiefster Überzeugung alle Vorwürfe abwehrten, dass die Vertriebenen hier etwa Geschichtsrevisionismus im Schilde führten. Sie gingen noch weiter und forderten einen anerkannten geschützten Raum zur Erinnerung an das Verlorene.

Damit erreichten Sie sowohl das Herz der Vertriebenenverbände, die sich zu Unrecht diffamiert sahen und endlich frei von diesem Stigma ihrer grenzüberschreitenden und auf europäische Versöhnung ausgerichteten Arbeit widmen wollten.

Aber Sie erreichten auch, dass die Menschen, die heute in den ehemaligen Vertreibungsgebieten leben – Polen, Russen, Tschechen, um nur einige zu nennen –, die teils offen hetzerischen Einflüsterungen, die Deutschen wollten ihnen ihr Zuhause wegnehmen, zunehmend als unglaubwürdige Propaganda identifizierten. Aus Ihren Worten, sehr geehrter Herr Gauck, sprach immer die Vernunft, dass das Unrecht der Vertreibung niemals durch ein neues Unrecht vergolten werden kann.

Sehr geehrter Herr Gauck, die deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen, die Aussiedler und Spätaussiedler wussten Sie sowohl dann an ihrer Seite, wenn ein klarstellendes Wort vonnöten war, als auch dann, wenn es um moralische Unterstützung ging. Sie wussten, dass jeder Vertriebene bei den wenigen Sachen, die er mitnehmen konnte, im Fluchtgepäck ein Gebetbuch und eine Bibel mitführte. Sie, lieber Herr Gauck, stehen den Vertriebenen und Spätaussiedlern als Theologe und als Mensch, der Kraft aus der Geistlichkeit schöpft, vom Wesen her nah. Denn Sie wissen aus persönlicher Erfahrung: Wer benachteiligt wird, wer unterdrückt und schon immer oder ganz plötzlich als Fremdkörper im eigenen Heimatland gilt – der sucht Beistand und Trost beim Pfarrer.

Politische Systeme können so unerbittlich und grausam sein zu Menschen. Bis heute können wir auf der politischen Weltkarte unzählige Staaten benennen, in denen Menschenwürde und Menschenrechte nichts bedeuten. Das gilt es unablässig anzuprangern – denn es sind diese Staaten, in denen die Wahrscheinlichkeit am höchsten ist, Opfer von Flucht und Vertreibung, von Repression und Aggression zu werden.

Sehr geehrter Herr Bundespräsident, Sie waren es, der anlässlich des Festakts zum ersten Nationalen Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung am 20. Juni 2015 durch den Tenor Ihrer Festrede den Rahmen dieses nationalen Gedenktags definiert und die Selbstverpflichtung Deutschlands, der Opfer aus unseren Reihen zu gedenken, verankert haben.

Sie zitierten damals den britisch-jüdischen Humanisten Sir Victor Gollancz mit dessen Worten: „Sofern das Gewissen der Menschheit jemals wieder empfindlich werden sollte, wird diese Vertreibung als die unsterbliche Schande all derer im Gedächtnis bleiben, die sie veranlasst oder die sich damit abgefunden haben.“ Damit rührten Sie bereits an dem latenten Unbehagen, das viele Menschen – sowohl in Deutschland, aber auch in den Vertreiberstaaten – in sich verspüren; weil die Menschen wissen, dass die ignorante, grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber diesem Kapitel der deutschen Geschichte sie selbst beschämt.

Mit der für Sie kennzeichnenden Ehrlichkeit nannten Sie als Bundespräsident, stellvertretend für das deutsche Volk, das Unrecht beim Namen. Ich möchte Ihre Worte wiederholen: „(…) unsere Haltung zum Leid der Deutschen war und blieb verknüpft mit unserer Haltung gegenüber der Schuld der Deutschen. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis wir – wieder – an das Leid der Deutschen erinnern konnten, weil wir die Schuld der Deutschen nicht länger ausblendeten.“

Frau Prof. Aleida Assmann, Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2018 und ein Jahr später Ehrengast bei der Gedenkstunde im Deutschen Historischen Museum in Berlin anlässlich des Gedenktags für die Opfer von Flucht und Vertreibung, erinnert sich an eine Einladung ins Schloss Bellevue. Es war im Januar 2013, im ersten Amtsjahr Ihrer Bundespräsidentschaft: „Sein Thema war die Erinnerung an Migration, Flucht und Vertreibung. Er wollten von den Geladenen wissen, in welcher Form diese Geschichte Teil einer nationalen Erinnerung werden und wie man daraus ein gesamtgesellschaftliches Thema machen könne.“ Frau Assmann zitiert Sie aus der Erinnerung weiter mit folgender Aussage: „Ich möchte mich dieser historischen Erfahrung stellen und kann das Argument nicht mehr hören: ‚Wer Wind sät, wird Sturm ernten!‘ Aus diesem Gefängnis will ich raus.“

In bewundernswert konsequenter Haltung prägten Sie dann mit dem Begriff „Erinnerungsschatten“ eine vortreffliche Metapher für die Situation der Vertriebenen, die die letzten fünf Jahrzehnte bundesdeutscher Befindlichkeit psychologisch und gesellschaftlich zutreffend beschreibt. Sie begrüßten es – ich zitiere – „außerordentlich, dass die Politik nun hilft, das Schicksal dieser Menschen aus dem Erinnerungsschatten zu holen. Und ich danke allen, nicht zuletzt dem Bund der Vertriebenen, die sich dafür eingesetzt haben!“

Nicht nur, dass Sie in vorbildlicher Weise ein jahrzehntelang tabubehaftetes Thema aufgegriffen und in den gesellschaftlichen Diskurs eingespeist haben (…); das große Verdienst besteht auch darin, dass Sie über Deutschlands Grenzen hinaus die betroffenen Menschen in Polen, in Tschechien und der Königsberger Exklave in ihrer legitimen Würde bestätigt haben. Niemand strebt an, Unrecht mit Unrecht zu begleichen!

Sehr geehrter Herr Gauck, Sie gehörten und gehören bis heute zu den Menschen, deren Wortmeldungen jederzeit mit großer Aufmerksamkeit erwartet und bewertet werden. So, wie Anfang 2015, als Sie sich im Berliner Dom weiter vorwagten, als die Positionierung von Parlament und Regierung es hätte erwarten lassen. Sie ließen es sich nicht nehmen, in der Debatte um das Schicksal der Armenier von Völkermord zu sprechen. Das nur beispielhaft dafür, dass Ihnen Realität immer schon näher lag als Ideologie.

Ihre Worte kamen immer zum richtigen Zeitpunkt und sind auch deshalb von bleibendem Wert, weil sie Stimmungen und Wandlungen in der Gesellschaft aufgriffen und verbildlichten. Ich möchte meine Würdigung darum gerne mit einem Zitat aus einem Interview ausklingen lassen, das Sie dem Deutschlandfunk vor nunmehr 15 Jahren gaben:

„Es gibt Menschen, die haben für die Nazi-Verbrechen mehr bezahlt als die Menschen in Nordrhein-Westfalen oder Niedersachsen. Das sind die Schlesier, die Pommern und die Ostpreußen, die alles verloren haben. Viele von uns anderen Deutschen haben manches verloren. Die haben dann ihre ganze Heimat verloren, und das kann man jetzt erinnern, ohne dass damit der Nazi-Terror oder auch die Schuld der Deutschen geleugnet würde. Das müssen wir erst einmal lernen.“

Flüchtlinge und Vertriebene, also Menschen, die ihres fundamentalen Rechts auf selbstbestimmtes Leben beraubt wurden, sind Ihnen zutiefst dankbar. Es braucht Menschen wie Sie, sehr geehrter Herr Gauck, an denen die Gesellschaft mein vorhin angebrachtes Zitat von Max Scheler spiegeln, verifizieren und bestätigt sehen kann.

Sehr geehrter Herr Bundespräsident Gauck, Sie sind ein würdiger Preisträger des Franz-Werfel-Menschenrechtspreises 2020.

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