Franz-Werfel-Menschenrechtspreis 2018

Hessischer Ministerpräsident Volker Bouffier MdL

Rede des Hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier MdL anlässlich der Verleihung des Franz-Werfel-Menschenrechtspreises am 21. Oktober 2018 in der Paulskirche in Frankfurt/Main

Sehr geehrter Herr Dr. Wagner,
lieber Christean,
sehr geehrter Herr Bürgermeister,
lieber Herr Becker,
sehr geehrter Herr Prof. Wolffsohn,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen Abgeordnete,
verehrte Ehrengäste,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

ich grüße Sie herzlich im Namen der Landesregierung und vor allen Dingen sehr persönlich. Ich habe gerne die Schirmherrschaft über diese besondere und herausragende Veranstaltung übernommen. Es ist mehr als eine Schirmherrschaft. Es ist eine innere Verbundenheit und – Dr. Wagner hat darauf hingewiesen – Teil der Geschichte meiner Familie.

Meine Damen und Herren, meine Vorfahren sind unter Maria Theresia von als Donauschwaben nach Jugoslawien ausgewandert, eingeladen, hier ein Leben in der Hoffnung auf eine neue bessere Zeit zu beginnen. Eingeladen nicht aus altruistischen Motiven, sondern als Wehrbauern, dieses von den Türkenangriffen zerstörte Land, wieder zu kultivierten. Was versprach man ihnen? Man versprach ihnen persönliche Freiheit, man versprach ihnen ein Stück Land, man versprach ihnen, dass sie ihren Glauben leben und ihre Sprache behalten dürfen. Es galt der berühmte Satz: „Die ersten hatten den Tod, die zweiten die Not, die dritten das Brot“ – und viel mehr wurden es dann nicht mehr. Das Leben für die Donauschwaben in Jugoslawien war beendet, als im Oktober 1944 die Rote Armee auf der anderen Seite der Donau stand.

Ich habe zwei Onkels, sie sind beide verstorben. Ich habe mich oft mit ihnen unterhalten. Der eine studierte damals in Deutschland, dann kam der Krieg, er wurde zur serbischen Armee einberufen. Der andere wurde gleich zur serbischen Armee geholt und dann zogen sie in den Krieg gegen Deutschland. Sie haben den Krieg verloren, bekamen neue Uniformen und waren nun plötzlich deutsche Soldaten. Dann zogen sie weiter in den Krieg, diesmal gegen Sowjet-Russland, es endete in Gefangenschaft. Der Rest der Familie hat, soweit sie überlebten, irgendwie im Osten neu angefangen und sie waren eigentlich immer auf der falschen Seite. Sie hat nie einer gefragt, ob sie das wollten oder nicht. Sie waren Spielball der Umstellung der Mächte. Sie haben dann versucht hier wieder neu anzufangen – und es ist ihnen gelungen. Sie waren zuversichtlicher, dankbarer, ja aus meiner Sicht vorbildlicher als mancher, der heute 70 Jahre Frieden genießt. Sie hatten eine Kriegserfahrung, die uns allen erspart geblieben ist, jedenfalls meiner Generation. Sie stehen als Vorbilder für mich, weil sie ein Land mit aufgebaut haben, das beispielhaft ist, um das uns in dieser Welt so viele beneiden.

Ich frage gelegentlich: „In welchem Land willst du eigentlich leben?“, bei diesen ständigen Kritikastern, den ständigen Molldiskussionen über Deutschland. Und ich sage denen: „Nicht als Urlauber, sondern wo möchtest du leben?“ Da kommt fast immer: „In Deutschland“. Meine Damen und Herren, warum sage ich das? Diejenigen Menschen, die ihre Heimat verloren haben, die hier wieder neu angefangen haben, sind ein herausragender Teil unseres Landes. Das Land Hessen hat – je nachdem wie man es einschätzt – zwischen einem Viertel und 30 Prozent Menschen, die als Vertriebene zu uns gekommen sind. Dieses Land wäre heute nicht das Land, was es ist, ohne die Leistung der Menschen, die zu uns gekommen sind. Sie wurden damals nicht gerade freundlich aufgenommen worden. Ganz im Gegenteil. Das Land war zerstört und nun kamen noch viele, viele hinzu. Es ist gelungen in einzigartiger Weise daraus ein Deutschland zu machen und ein Hessen, wie wir es nie hatten. Und deshalb bin ich auch hier, um immer wieder deutlich zu machen, dass diese Leistungen nicht vergessen werden dürfen. Dass das, was wir heute haben, worauf wir heute stehen, ganz entscheidend auch die Leistungen derjenigen sind, die wir gemeinhin als Vertriebene bezeichnen, dafür gilt mein ganz besonderer Dank und Anerkennung.

Bürgermeister Uwe Becker hat auf die Charta der Vertriebenen von 1950 hingewiesen. 1950 – das war zum einen ein Signal und es war zum anderen geradezu prophetisch. 1950 war der Brückenbau, der Brückenschlag zu einem gemeinsamen Europa; eigentlich eher eine Vision, 5 Jahre nach Ende des Krieges, in einer Zeit, in der viele Menschen die Wirren des Krieges keineswegs überwunden hatten. Ich begrüße ausdrücklich, dass die Stiftung dazu passend jetzt auch eine Ausstellung eröffnet, in der es darum geht, wie gerade Zivilisten in der Zeit bis 1955 gelitten haben. Indem sie den Preis gezahlt haben, den sie nie persönlich bestellt hatten. Deshalb: Sehen Sie meine Anwesenheit als Anerkennung für die Arbeit der Stiftung. Sie ist wichtig und sie bleibt wichtig. Als die Stiftung gegründet wurde, gab es eine heftige Diskussion. Sie ist abgeebbt, aber gelegentlich immer noch da. Ist das nicht irgendwie alles gestrig? Sollte man es denn nicht einfach zur Seite legen? Ist es denn nicht vielleicht sogar störend für den Prozess dessen, was wir brauchen, um zusammen zu kommen, insbesondere in Europa?

Der Stiftung ist es in den zurückliegenden Jahren gelungen, deutlich zu machen, dass es immer zwei Dinge gibt, die zusammen gehören. Einmal erinnern, aber nicht erinnern um des Erinnerns willen nur, sondern daraus auch die notwendigen Schlüsse zu ziehen, die Kraft zu ziehen, aber auch die Wegweisung zu dem, wo wir hinwollen. Und deshalb: Die Arbeit dieser Stiftung ist weder gestrig noch verstaubt, und sie ist schon gar nicht gegen den Frieden und die Völkerverständigung. Und auch deshalb bin ich heute hier. Ganz nebenbei: Das Land Hessen unterstützt diese Stiftung seit Anfang an und ich werde alles tun, damit es so bleibt.

Meine Damen, meine Herren, ich gratuliere Herrn Prof. Wolffsohn sehr, sehr herzlich. Ich verfolge Ihre Arbeit seit vielen, vielen Jahren. Ich finde, dass der Franz-Werfel-Menschenrechtspreis in ganz herausragender Weise Ihnen zuerkannt wurde. Ich gratuliere Ihnen dazu von Herzen, wünsche Ihnen, dass sie weiterhin erfolgreich in Ihrer Arbeit sind. Der Preisträger und der Namensträger dieses Preises, die passen gut zusammen. Und deshalb meine Damen und Herren: Erinnern, ja, alleine schon die Opfer würden es rechtfertigen, dass wir sie nicht vergessen. Daraus folgt die universale Geltung der Menschenrechte. Bürgermeister Becker hat darauf hingewiesen. Dieser Paulskirche steht besser als jeder andere dafür. Und trotzdem genügt es nicht, nur an Festtagen sich um die Menschenrechte zu kümmern.

Meine Damen und Herren, es steht nicht gut um diese Rechte in dieser Welt. Es gibt Statistiken, die sagen, dass wir weniger Kriege haben, dass weniger Menschen hungern, dass weniger Leid in dieser Welt ist. Darüber freue ich mich. Aber es ist immer noch viel zu viel. Und jeder Einzelne, dem seine Rechte missachtet werden, vorenthalten werden, ist einer zu viel.

Meine Damen und Herren, als die Paulskirche damals zusammenkam war sie das Ergebnis der Sehnsucht nach Einheit, nach einem neuen gemeinsamen Gesellschaftskonsens. Daraus ist am Ende nichts geworden; es hat doch lange gedauert, aber die Saat, die da aufgelegt wurde, die trägt heute. Sie ist eine der Grundlagen unseres Staates, unserer Gesellschaft und sie geht weit über nationale Grenzen hinaus.

Herr Dr. Wagner hat Recht, in der Stiftung ist von Anfang an darauf hingewiesen worden, dass es auch darum geht, zu erinnern wie es war. Insbesondere bei den Deutschen. Aber das es auch darüber hinaus schon fast einen universalen Anspruch haben muss. Und deshalb meine Damen und Herren begrüße ich es, dass die Stiftung diese Arbeit engagiert fortsetzt, denn es tut Not.

Wir können gewiss ermutigt sein. Wer hätte gedacht, dass ein Begriff wie „Heimat“ so eine Renaissance erfährt. Vielleicht haben die Wahlplakate gesehen, die mit der Heimat werden. Sogar für die Grünen ist die „Heimat natürlich“. Das ist schon gewaltig, was da passiert ist. Heimat wurde gelegentlich so als letztes Refugium, so ein bisschen wie Heidi in der Schweiz, so ein bisschen zurückgeblieben dargestellt. Heute befassen sich viele fabelhafte Broschüren und Gazetten in vielen Ausführungen mit der Heimat – und das in durchaus großen Auflagen haben. Aber dahinter steht mehr als ein Trend. Heimat ist ein unveräußerliches Recht. Heimat bleibt. Um nochmal eine persönliche Reminiszenz zu ziehen: Meine Mutter ist gerade 91 Jahre geworden. Gott sei Dank in großer geistiger Frische. Die Heimat ist lange weg, aber innerlich bleibt sie und das ist bei all denen, die ihre Heimat verloren haben und hier eine neu Heimat gefunden haben. Bekenntnis zur neuen Heimat ist nicht Absage an die eigene Heimat, sondern beides gehört zusammen. Und aus dieser Renaissance des Begriffs der Heimat kann man Hoffnung schöpfen, dass diese Arbeit, der die Stiftung sich so besonders verbunden fühlt, keineswegs sozusagen auf dem auflaufenden Posten derer ist, die noch zur Erlebnisgeneration gehören, sondern – und das kann sie ermutigen, das kann sie erfreuen – etwas ist, was sich gerade viele junge Menschen durchaus mit Interesse anschauen. Und deshalb: Dieses Thema ist für die Stiftung, glaube ich, ein hervorragender Nährboden für ihre weitere Arbeit und daraus abzuleiten, und die größeren Zusammenhänge zu erzählen und zu erklären.

Meine Damen und Herren, es gilt der alte Leitsatz „Wer nicht weiß wo er herkommt, der weiß nicht warum es heute so ist wie es ist, der kann es nicht verstehen. Und wer die Geschichte nicht kennt, der ist Spielball im Wind der täglichen Schlagzeilen und der jeweiligen Emotionen. Wer die Geschichte kennt, wer seine eigene Identität kennt, sie versteht, der hat auch einen guten Kompass für die Zukunft.“ Und diese Zukunft kann aus meiner Sicht eine sehr gute sein, wenn wir es klug machen.

Ich will eine zweite Bemerkung machen: Der Nationalismus feiert Auferstehung, wie ich es mir hätte vor kurzem nicht vorstellen können. Amerika First, Türkiye – ich weiß nicht, was „first“ auf Türkisch heißt –, Putin, Orban, und wie sie alle heißen. Sie erzählen den Menschen das Gefühl, es komme nur darauf an, dass man selbst und alleine die Welt regelt. Damit mich niemand missversteht, natürlich ist jemand, der öffentliche Verantwortung trägt und gerade der Politiker, natürlich in besonderer Weise und zuerst für das Land verantwortlich, dem er seinen Dienst schuldet. Die Frage ist nur, ob wir das machen ohne Rücksicht auf Verluste links und rechts, ohne Rücksicht auf alle anderen oder ob wir versuchen, unsere Interessen so zu vertreten, dass auch die Interessen der anderen dort eine Berücksichtigung finden.

Gerade wir in Deutschland haben dazu eine einmalige Erfahrung machen können und niemand mehr als Helmut Kohl hat uns immer deutlich gemacht: Deutsche Interessen und europäische Interessen sind kein Gegensatz, sie bedingen sich gleichzeitig. Heute säße niemand aus der alten DDR hier, wenn es nicht gelungen wäre diese beiden Punkte bei der Wiedervereinigung zusammenzubringen. Ohne eine tiefe Zustimmung, natürlich der beiden damaligen Hauptmächte Sowjetunion und USA, aber eben auch der Europäer, wäre diese Wiedervereinigung nicht gelungen. Deshalb werbe ich immer dafür, entlang der alten Überlegung des Unterschieds zwischen dem Nationalisten und dem Patrioten: Der Nationalist kennt nur sein Land und verachtet alle anderen. Der Patriot steht zu seinem Land und achtet alle anderen. Und daran müssen wir festhalten.

Vertreibung, Genozid kommt nicht plötzlich von irgendwo her, sondern es beginnt manchmal schleichend, dann lauter, dann härter. Die Sprache ist ein Schlüssel zum Umgang miteinander. Die Ausgrenzung, die Abgrenzung, und aus der Ausgrenzung folgt dann irgendwann die Abwertung, und aus der Abwertung der Hass. Das ist der Nährboden auf dem dann das gedeiht, gegen das wir gemeinsam immer antreten. Vertreibung, Genozid, aber auch ganz einfach die Missachtung elementarster Menschenrechte – sie beginnen früher. Deshalb brauchen wir viele Menschen, die nicht Zuschauen, die nicht einfach hoffen, dass immer ein anderer etwas tut, sondern die sich selbst einbringen. Wir brauchen wache Zeitgenossen, wir brauchen Menschen, die auch den Mut haben sich zu äußern. Früh, klar, eindeutig. Deshalb finde ich die Preisverleihung heute an Sie, Herr Prof. Wolffsohn, ganz besonders herausragend. Sie haben sich selbst bezeichnet als einen Citoyen. Das kann man jetzt in unterschiedlichster Weise übersetzen, aber was Sie meinen, das kann ich nur dreimal unterstreichen: Einen Bürger, einen Mitbürger, der sich für sein Land engagiert. Genau das ist es, was wir brauchen. Wir haben zu viele, die zuschauen. Es gibt wieder zu viele, die nicht den Mut haben, gelegentlich mal deutlich zu sagen, was geht und was nicht geht.

Bürgermeister Uwe Becker hat auf Umstände hingewiesen, die wir in diesen Monaten und Wochen erleben. Ich bin sehr betrübt, wenn wir bei uns wieder feststellen, dass gerade Menschen jüdischen Glaubens uns erklären, dass sie sich nicht mehr mit der Kippa auf die Straße trauen. Ich will das heute nicht auslassen. Wir tun eine ganze Menge, und wir werden das nicht hinnehmen, aber es sind Brandzeichen an der Wand und deshalb: All diejenigen, die jetzt unterwegs sind mit populistischen, ausgrenzenden Sprüchen, sie brauchen ein klares Wort der Gegenwehr.

Sie, sehr geehrter Herr Prof. Wolffsohn, haben seit vielen Jahren, als Historiker, als Hochschullehrer, als Publizist, als starke Stimme darauf hingewiesen, was in diesem Land aus Ihrer Sicht gut läuft, was weniger gut läuft, und Orientierung gegeben. Der Historiker weiß, wie es war, aber er nutzt es auch, um uns einen Weg zu zeigen, wie es sein soll. Und deshalb freue ich mich sehr für Sie, ich gratuliere Ihnen von Herzen zu dieser hohen Auszeichnung, wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg in Ihrer Arbeit und, meine Damen und Herren, ich wünsche der Stiftung viel Erfolg in dieser Arbeit. Für die Menschenrechte einzutreten kann nie unzeitgemäß sein. Für diejenigen einzutreten, die Hilfe brauchen, zeichnet diejenigen aus, die ihnen helfen. Diejenigen nicht zu vergessen, die den Titel sozusagen geprägt haben. Sie und ihre Nachfahren müssen immer wieder deutlich machen, dass Vertreibung auch der Deutschen Teil unserer gemeinsamen Geschichte ist. Es ist nicht nur die Geschichte der Vertriebenen. Und so verstanden ist diese Arbeit heute mindestens so wichtig wie vor Jahren. Nach meiner Überzeugung, lieber Herr Dr. Wagner, wird sie auch in Zukunft mindestens so wichtig sein wie heute. Denken sie an den Begriff „Heimat“, er ist ein Schlüssel und er zeigt, wer Kurs hält, auch in bewegten Zeiten, kann eine Menge bewegen. In diesem Sinne seien sie herzlich gegrüßt.

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