Franz-Werfel-Menschenrechtspreis 2018

Laudatio von Prof. Andreas Rödder

Laudatio von Prof. Andreas Rödder auf Preisträger Prof. Dr. Michael Wolffsohn anlässlich der Verleihung des Franz-Werfel-Menschenrechtspreises am 21. Oktober 2018 in der Paulskirche in Frankfurt/Main

Als Professor aus Mainz könnte ich versucht sein, Ihnen nun den Historiker Michael Wolffsohn und sein wissenschaftliches Werk näher vorzustellen. Grund dazu gibt es mehr als genug. Michael Wolffsohn ist einer der prominentesten deutschen Zeithistoriker. Er hat 30 Bücher verfasst, deren Themen sich von der Politik der Arbeitsbeschaffung im Deutschland der frühen dreißiger Jahre über die Geschichte Israels, des Nahostkonflikts und die internationale Politik, die deutsch-israelischen Beziehungen und die deutsch-jüdische Geschichte, die Geschichte der Vornamen in Deutschland und Willy Brandts Kniefall in Warschau bis zu einer hinreißenden „Weltgeschichte seiner Familie“ spannen. Darin steckt zugleich der biographische Kern und die gesellschaftlich-politische Botschaft der Arbeiten von Michael Wolffsohn: eine deutsch-jüdisch-israelische Verständigung durch gesellschaftliche Entkrampfung ohne geschichtliche Entsorgung.

Das sagt sich so leicht. Und doch tun sich unter den Brücken, die Wolffsohn baut, die Abgründe der Geschichte auf. Seine Familie floh 1939 aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach Palästina, und kehrte 1954 nach Berlin zurück. „Von Berlin nach Tel Aviv und trotz allem zurück nach Berlin“ – so steht es auf dem Grabstein seines Großvaters geschrieben. In umgekehrter Richtung stimmt das auch für Michael Wolffsohn: er wurde 1947 in Tel Aviv geboren, zog dann mit der Familie nach Berlin und studierte auch dort, zudem in Tel Aviv und New York, Geschichte, Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre. Nach dem Studium absolvierte er 1967-70, in wahrlich kriegerisch bewegten Jahren, Wehrdienst in Israel. 1970 kehrte er nach Deutschland zurück, wurde im Fach Geschichte promoviert und habilitierte sich in Politikwissenschaften –auch disziplinär war und ist er ein Grenzgänger. Aber an den Grenzen gibt es auch mehr zu entdecken als im mainstream. 1981 wurde er Professor für Neuere Geschichte und Geschichte der Internationalen Beziehungen an der Bundeswehrhochschule in München. 2012 trat er in einen Ruhestand, der, wie Sie ahnen werden oder auch wissen, natürlich keiner ist.

Michael Wolffsohn ist ein deutscher Jude, oder richtiger: ein jüdischer Deutscher, der deutschjüdisch ohne Bindestrich schreibt. Es war die große Tragödie der deutschen Geschichte, dass die Antisemiten schon im Kaiserreich und dann erst recht die Nationalsozialisten die deutschen Juden, die Bürger waren und sich als Deutsche jüdischen Glaubens verstanden, nicht Deutsche sein lassen wollten. Stattdessen wurden sie aus der vielbeschworenen Volksgemeinschaft ausgegrenzt und ausgestoßen, beraubt und getötet. Aus Sicht der Juden: geflohen, gestorben oder ermordet. Und diese Ausgrenzung hörte, trotz aller Bemühungen um Wiedergutmachung, auch nach 1945 nicht auf: vom Ressentiment gegen Remigranten über die vielfältigen Widerstände, die Arisierungsgewinne deutscher Volksgenossen rückgängig zu machen, bis hin zu der Episode, dass Ignaz Bubis auf „seinen Botschafter“ angesprochen wurde, und gemeint war der israelische. Vielleicht war das gar nicht so gemeint, aber die Aussage war doch: Du gehörst nicht dazu.

Und es war eine andere Form von Ausgrenzung, wenn die Juden auf der anderen Seite nach 1945, ich zitiere Wolffsohn, „zumindest in Westdeutschland geradezu heilig gesprochen“ wurden. „Ein Realbild vom Juden als Mensch wurde und wird kaum gezeichnet. Es gibt nur das entweder – oder, schwarz oder weiß.“ Was wir aber brauchen, so sagte Wolffsohn an anderer Stelle, ist ein „ganz offenes, wahrhaftiges, partnerschaftliches Verhältnis, weder anti-, noch philosemitisch, sondern ein Verhältnis von Mensch zu Mensch. Wir sind in erster Linie Menschen, erst dann Deutsche, Juden oder was auch immer.“

Es klingt immer so wohlfeil, wenn von „Versöhnung“ die Rede ist. Wenn ich mir aber all diese vielfältigen Ausgrenzungserfahrungen vorstelle, die existentiellen und die subtilen, den Völkermord, die verweigerte Rückgabe und die Rede von „ihrem“ Botschafter, dann erst ermisst sich die Weltzugewandtheit und die Größe, die es braucht, um sich als deutschjüdischer Patriot  zu verstehen und sich als „Glückskind“ zu bezeichnen – eine Größe und Weltzugewandtheit, vor der ich mich nur verneigen kann.

Diese Größe zeigt sich auch darin, dass Michael Wolffsohn immer wieder Stellung zur Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen deutschen Gebieten im Osten und Südosten Europas bezogen und auch an deren Leid erinnert hat – auch das muss man als Jude erst einmal machen.

Man macht es, wenn man einen weiten Horizont und zugleich einen festen Kompass hat. Und das ist für Michael Wolffsohn die Unteilbarkeit der Menschenrechte, egal ob es opportun ist oder nicht: das gilt für den Holocaust, das gilt für die Vertreibung der Deutschen, und das gilt ebenso für einen neuen Antisemitismus, der mit arabischer Migration nach Europa kommt. Es ist ja leicht erklärbar: ich brauche zum Nahostkonflikt überhaupt nicht wertend Stellung beziehen, um zu verstehen, dass Syrer, Iraker oder Palästinenser mit einer scharfen Ablehnung Israels aufgewachsen sind und diese Haltung nicht an der Grenze zur EU aufgeben. Natürlich kommt auf diesem Wege ein neuer Antisemitismus nach Deutschland und Europa, und es gehört zu den unheilvollen Tabuisierungen unserer politischen Debatte in Deutschland, wenn nicht sein kann, was nicht sein darf.

Michael Wolffsohn aber sagt, was ist, egal ob es sein darf. „Professor“ kommt nicht von Profit, sondern vom lateinischen profiteri: bekennen. Und wer, wenn nicht der deutsche Professor, hat die Freiheit und die Verantwortung, zu sagen, was ist? Und das ist es, was ihn so sehr auszeichnet: er ist ein Bürger, ein deutscher Bürger im allerbesten Sinne des Wortes. Damit komme ich noch einmal auf die Frage, die für die deutschen Juden so verhängnisvoll war, weil es ihnen nicht zugestanden wurde: was ist deutsch?

Die Deutschen haben sich mit dieser Frage immer schwer getan. Denn als die Frage nach der Nation im frühen 19. Jahrhundert aufkam, da gab es keinen deutschen Staat, an dem sich diese Nation aufhängen konnte, so wie es in Großbritannien oder in Frankreich der Fall war. Deshalb verstand sich die deutsche Nation nicht als Staatsnation, sondern als Kulturnation. Das war zunächst ganz universalistisch gedacht: Sein statt Scheinen und weltbürgerlicher Geist, Gründlichkeit und Ursprünglichkeit, hieß es in Johann Gottlieb Fichtes „Reden an die deutsche Nation“. Doch von Anfang an war in der Frage „was ist deutsch“ die Tendenz zur kulturellen Selbstüberhebung enthalten. Selbst Thomas Mann stellte der Tiefe der deutschen Kultur und der deutschen Seele in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ die oberflächliche Zivilisation der Briten und der Franzosen gegenüber.

Die Tendenz zur moralischen Selbstüberhebung ging einher mit Abgrenzung und Ausgrenzung, vor allem der Juden, die der Antisemitismus nicht Deutsche sein lassen wollte. Und auch heute stellt sich angesichts vielfältiger Zuwanderung wieder die Frage, die Deutschland seit zwei Jahrhunderten keine Ruhe lässt: was und wer ist deutsch? Wer gehört dazu? Wie fließend muss man deutsch sprechen, um deutsch zu sein? Und wie fließend ist das Deutsch vieler Deutscher? Und wie viele Deutsche würden den Einbürgerungstest bestehen?

Sie sehen: Solche Fragen führen schnell in Sackgassen. Tatsächlich ist die entscheidende Frage nicht „was ist deutsch“, zumal sie sich nie trennscharf beantworten lässt. Entscheidend ist die Frage: „wer ist Bürger?“ Und dann lautet die Antwort: deutsch ist, wer Bürger dieses Landes ist. Diese Antwort ist zugleich die Grundlage eines modernen, weltoffenen Nationalstaates, der sich dazu bekennt, Nationalstaat zu sein, und der zugleich denen, die Bürger werden wollen, die Chance zur Einbürgerung eröffnet.

Wenn wir die Frage nicht von der ethnischen Herkunft aufziehen, sondern von der Warte des Bürgers aus betrachten, dann stellt sich auch die Frage der Leitkultur viel entspannter. Denn eine Gesellschaft der Bürger lebt von Voraussetzungen, die Verfassung und Gesetze allein nicht garantieren könnten. Sie lebt von allgemein akzeptierten Werten und Normen, vom Gemeinsinn ihrer Bürger. Diese Bürgergesellschaft erwartet von ihren Bürgern, dass sie sich zu diesem Gemeinwesen und seinen Grundwerten bekennen: Demokratie, Pluralismus, individuelle Selbstbestimmung und Selbstverantwortung. Und die Verantwortung des Bürgers für dieses Gemeinwesen zeigte sich am deutlichsten in der allgemeinen Wehrpflicht, dem „Bürger in Uniform“.

Der Bürger, der für seine Gesellschaft eintritt und deren Gemeinsinn fördert – damit bin ich längst wieder bei Michael Wolffsohn, und bei der Gartenstadt Atlantic am Gesundbrunnen in Berlin. Er hat sie von seinem Großvater Karl Wolffsohn geerbt, der sie in den zwanziger Jahren als Siedlung im Sinne des Reform-Wohnungsbaus hatte errichten lassen, der von den Nazis enteignet wurde und später über den Widrigkeiten der Rückerstattung starb – 49 Häuser mit 500 Wohn- und 25 Gewerbeeinheiten, die Michael Wolffsohn zusammen mit seiner Frau Rita generalsanieren ließ und wo heute gemeinnützige deutsch-türkisch, muslimisch-jüdische Kultur-, Bildungs- und Integrationsprojekte für Kinder und Jugendliche stattfinden, um friedliches Neben- und Miteinander zu ermöglichen. Wolffsohn sagt, dass es ein gesellschaftlich-politisches Problem mit dem Islam gibt, vor einem Jahr in einem Interview im Tagesspiegel: „Man kann nicht bloß sagen: Islam ist Frieden. Das ist Wunschdenken“. Und zugleich sucht er den Dialog, zwischen den Religionen, den Kulturen und vor allem: zwischen den Menschen. Die Gartenstadt, so hat er es selbst formuliert, ist ein Projekt der „Versöhnung von einem, der kein Versöhnler war und niemals sein wird.“ Und es ist „Einsatz für mein Gemeinwesen, weil es mein eigenes ist“ – das ist es, was Michael Wolffsohn in einem Interview mit der NZZ im Februar diesen Jahres als „Patriotismus“ definiert hat. Nicht deutschtümelnd, sondern bürgergesellschaftlich, nicht rückwärtsgewandt, sondern zukunftsorientiert.

Dieser Bürger bezieht zugleich Position, vertritt eine Meinung, auch wenn sie unbequem ist und gegen den mainstream schwimmt – gerade dieser Tage wieder anlässlich einer Resolution des Verbandes deutscher Historikerinnen und Historiker, die sich arg zeitgeistkonformistisch „zu gegenwärtigen Gefährdungen der Demokratie“ äußert. Der Historikerverband habe kein allgemeinpolitisches Mandat und mische sich in allgemeinpolitische Debatten ein, kritisiert Wolffsohn. Und dann fügt er ein drittes Argument hinzu: die Resolution maße sich die Verkörperung der volontée générale“ an. Und es sei gerade dieses Verständnis von Aufklärung gewesen, sich nämlich den allgemeinen Willen, die höhere Einsicht anzumaßen, die „historisch betrachtet, zum Mord an Millionen Menschen geführt“ hat – von Robespierre über Stalin und Hitler bis Mao und dem Islamischen Staat. Hier begegnet uns der wahre Bürger, der wahre Aufklärer Michael Wolffsohn, der den individuellen Menschen, nicht pauschale Kollektive im Blick hat, und hier sind wir beim Kern der Menschenrechte.

Denn die werden und wurden von den Anmaßungen der Extreme auf allen Seiten bedroht: von der Ideologie der rassereinen Gesellschaft im Nationalismus ebenso wie von der Utopie der klassenlosen Gesellschaft des Sowjetkommunismus im Jahrhundert der Extreme, genauso wie heute von der Nostalgie eines ethnisch-homogenen Deutschlands auf der einen Seite und der Nie-Wieder-Deutschland-Antifa auf der anderen. Gegen die zunehmende Radikalisierung der Extreme braucht die Demokratie eine sprech- und debattenfähige Mitte. Die das Projekt Lehrerwatch der AfD genau so als Denunziation kritisiert, wie ich mir die Reaktionen auf Münklerwatch, die linke Hetze gegen Professoren in Berlin gewünscht hätte.

Michael Wolffsohn tut das. Er steht für das, was die Gesellschaft der Bürger ausmacht: Pluralismus und Streit über unterschiedliche Meinungen, der zu besseren Ergebnissen führt. In der Politik führt dies in ein Dilemma: wir reden immer vom Streit als dem Lebensgesetz der Demokratie. Doch dann sagen die Demoskopen: Wähler mögen keinen Streit. Und dann lautet die Schlussfolgerung der politisch Verantwortlichen schnell: Geschlossenheit, Schluss der Debatte. Das aber führt zur demokratischen Friedhofsruhe. Und ich glaube, das ist das Ergebnis einer Verwechslung: denn Parteienstreit über die Versetzung eines Verfassungsschutzpräsidenten oder der „Endkampf um die Glaubwürdigkeit“ – das ist tatsächlich Streit, der nichts bringt und der Bürger abstößt. Aber der Streit in der Sache, das Ringen um die besseren Lösungen in der Sache, zwischen den Parteien und auch innerhalb der Parteien – das ist tatsächlich das Lebensgesetz der Demokratie, um bessere Lösungen zu finden. Und ich will und kann mir nicht vorstellen, dass die Bürger nicht in der Lage sind, zwischen dieser notwendigen Auseinandersetzung in der Sache und überflüssigem machtpolitischem Geschachere zu unterscheiden.

Jedenfalls ist es der Bürgergeist, auf dem unsere Demokratie beruht und der die Menschenrechte trägt – ein Bürgergeist, der in der Sache streitet, der Stellung bezieht, auch und gerade, wenn es unbequem ist, und der die eigene Position zugleich nie absolut setzt. Sie werden es gemerkt haben: ich bin längst wieder bei Michael Wolffsohn. Ich weiß nicht, wem ich mehr gratulieren soll: Ihnen, lieber Herr Wolffsohn, zu Ihrem Preis, oder dem Franz-Werfel-Menschenrechtspreis zu diesem Preisträger. Was ich aber weiß: dass alle deutschen Bürger froh sein können, dass wir Sie als Anwalt der unteilbaren Menschenrechte und als einen unabhängigen Streiter für die Sache haben, dessen Ehrenplatz der zwischen allen Stühlen ist. Großen Dank und ganz herzlichen Glückwunsch, lieber Michael Wolffsohn.

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