Franz-Werfel-Menschenrechtspreis 2016

Laudatio von Düzen Tekkal

Sehr verehrte Frau Klier,

sehr geehrter Herr Becker,

sehr geehrte Frau Steinbach,

meine Damen und Herren,

Die Parallelen

Das Gesicht verrät die Stimmung des Herzens – dies wusste schon Dante.

Wenn ich – durch diesen einmaligen Perspektivwechsel hier oben – in Ihre Gesichter sehe, erblicke ich viele glückliche, erfüllte und stolze Herzen. Ich sehe aber auch fragende, neugierige und gespannte Herzen.

Denn viele von Ihnen werden sich wahrscheinlich fragen, warum heute – hier in der Paulskirche zu Frankfurt – eine deutsche Jesidin aus Niedersachsen die Laudatio auf eine DDR-Bürgerrechtlerin aus Sachsen anlässlich der Verleihung des Franz-Werfel-Menschenrechtspreises halten darf.

Wahrscheinlich war ich ebenso überrascht wie Sie als ich hiervon erfuhr, denn in anderen Teilen dieser Welt werden Jesidinnen gerade in diesem Moment vergewaltigt und für Cent-Beträge auf Sklavenmärkten verkauft.

Aber in meinem Deutschland wird mir die Ehre der Laudatorin zuteil.

Und wahrscheinlich ist Ihnen, ebenso wie mir, nicht klar, obwohl unterschiedlicher die Leben von Freya Klier und Düzen Tekkal nicht sein könnten, wie viele Parallelen sich durch unsere Leben wie ein roter Faden ziehen, der uns final heute hier in Paulskirche vereint und zusammengebracht hat.

Sigmund Graff sagte einmal:

„Gebildet ist, wer Parallelen sieht, wo andere etwas völlig Neues zu erblicken glauben.“

Begeben wir uns also auf Parallelen-Suche.

 

Mein Vater

Für mich ist es etwas ganz Besonderes heute hier zu stehen, weil dieser Ort untrennbar verbunden ist mit der ersten bürgerlichen Revolution von 1848 in Deutschland.

Die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche war das erste frei gewählte Parlament, das Vertreter der gesamten deutschen Nation umfasste.

Ich bin heute mit meinem Vater hier. 

Mein Vater nahm mich damals als 4-Jährige mit in den niedersächsischen Landtag.

Er, der jesidische Flüchtling aus Anatolien, wollte mir begreifbar machen, welch gesellschaftlichen Schatz wir durch die parlamentarische Demokratie in Deutschland haben.

Er ermahnte mich, dass diese vom Deutschen Grundgesetz gewährten Freiheiten und Rechte nicht selbstverständlich seien.

Schon gar nicht dort, wo wir ursprünglich herkämen und dass es gilt, diese Werte alltäglich neu zu verteidigen, neu zu verhandeln und sie sich neu ins Gedächtnis zu rufen.

Seine Worte könnten in Zeiten wie diesen kaum aktueller sein.

Papa, es ist nun so viele Jahre her, dass Du mich mit in das Parlament von Niedersachsen genommen hast.

Heute habe ich nun die Ehre, Dich und Mama, mit zur Mutter der Parlamente in Deutschland zu nehmen:

 

In die Frankfurter Paulskirche. 

 

Die Bedeutung der Nationalversammlung

Wie die Paulskirche untrennbar mit der Revolution von 1848 verbunden ist, so ist das Leben von Freya Klier unmöglich losgelöst von der DDR zu verstehen.

Eine historische Parallelenziehung bringt erstaunliche Erkenntnisse:

Nach dem Scheitern der Revolution 1848 in den deutschen Einzelstaaten waren keine unmittelbaren Veränderungen eingetreten, langfristig gesehen aber ist die Arbeit der Nationalversammlung von außerordentlicher Bedeutung:

Die deutsche Einigung hatte sich als unbestreitbarer Wunsch der Mehrheit der Deutschen erwiesen. - Ja, ich spreche von den Jahren 1848/1849 und nicht von den 1980ern.

 

Der liberale Konstitutionalismus hatte endgültig gesiegt. Eine absolutistische Fürstenherrschaft war nicht mehr möglich.

Auch wenn die folgenden Verfassungen von den Fürsten oktroyiert wurden, mussten sie von nun an Gesetz und Recht folgen. – Wann immer dieser Grundsatz in den nachfolgenden Jahrzehnten nicht eingehalten wurde, konnten sich diese Regime – sei es die Nazi-Diktatur oder die DDR-Diktatur - nicht dauerhaft etablieren.

Nachdem sich in der Paulskirche erste politische Gruppierungen ausgebildet hatten, begann sich in Deutschland das Bewusstsein zu verstärken, dass nur regional übergreifende politische Organisationen auf die Dauer wirksam sein würden - wir wollen bei dieser Betrachtung wohlwollend Bayern außenvorlassen.

Die Bildung von Parteien war durch die Nationalversammlung entscheidend begünstigt worden.

– Aber eines wurde auch deutlich: EINE Partei alleine kann diesem Grundsatz niemals gerecht werden.

 

Die von der Paulskirchenversammlung formulierte Verfassung beeinflusste alle nachfolgenden deutschen Verfassungen.

Das allgemeine Wahlrecht setzte sich gegen das Zensuswahlrecht durch. – Auch hier zeigt einmal mehr die Geschichte, dass das allgemeine Wahlrecht auf Dauer nicht funktionieren kann, wenn man keine wirkliche Auswahl hat.

All diese Beispiele zeigen:

Der Ton der Veränderung wurde hier in der Paulskirche gesetzt und entwickelte sich zu einem Chor der Demokraten, dessen lieblicher Gesang von Einigkeit und Recht und Freiheit, nicht mehr dauerhaft zum Verstummen gebracht werden konnte.

 

Robert Blum

Ich kann aber nicht über die Paulskirche referieren, ohne auf Robert Blum einzugehen und einmal mehr Parallelen zu Freya Klier herauszuarbeiten:

Robert Blum war Politiker, Publizist und Dichter in der Zeit der Revolution von 1848 und er wurde eines ihrer prominentesten Opfer.

Am Abend des 8. November 1848 wurde Blum in einem zweistündigen Prozess wegen aufrührerischer Reden und seiner Unterstützung der revolutionären Bewegung in Wien hingerichtet.

Es war die Ehrfurcht vor dem Vergangenen und die Gewissheit, dass es ein „Weiter so“ nicht geben könne, die Menschen, wie Robert Blum, dazu bewegten, Advokaten der Veränderung zu werden, und hierfür auch die Konsequenzen zu tragen.

Freya Klier war und vielmehr ist eine solche Advokatin der Veränderung.

Durch ihr künstlerisches Schaffen und ihr bürgerrechtliches Engagement in der ehemaligen DDR hat sich Freya Klier für Veränderung und Wandel eingesetzt.

Sie hat sich nicht mit dem Status-quo arrangiert, sondern für ihre Überzeugungen - mal subtiler, mal direkter -gekämpft.

Um es mit den Worten von Theodor Storm zu sagen:

Der eine fragt: Was kommt danach?

Der andre fragt nur: Ist es recht?

Und also unterscheidet sich der Freie

von dem Knecht.

 

Die tote Staatskunst

Freya Klier ist im Gegensatz zu Robert Blum nicht zum Tode verurteilt worden, gleichwohl hat ihr der Unrechtsstaat der DDR nach dem Leben getrachtet und sie bekam die Repression des Staates mit voller Gewalt zu spüren als sie in der Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen inhaftiert wurde.

Es stand damals schon lange für die DDR-Führung fest, dass Freya Klier ausreisen sollte, weil sie kritisch auf gesellschaftliche Missstände hingewiesen hatte.

Das System der DDR konnte es schlichtweg nicht ertragen, dass jemand auf den größten Systemfehler hingewiesen hat.

So war ihr Haftbefehl bereits im Dezember ausgestellt worden, nur bot sich für die Staatssicherheit noch nicht der passende Moment, um ihn auch zu vollstrecken.

Dieser kam für die Stasi schließlich am 25. Januar 1988 als sie im Rahmen der „Aktion Störenfried“ verhaftet wurde.

 

Zu einem „Störenfried“ für die Stasi entwickelte sich Freya Klier zunehmend seit dem Anfang der 1980er Jahre als sie Mitglied im Friedenskreis Pankow wurde und sich in der DDR-Friedensbewegung aktiv einbrachte.

Dies führte schließlich 1985 zu einem Berufsverbot als Regisseurin.

Sie hat ihre künstlerische Arbeit ihren inneren Überzeugungen geopfert, als es unmöglich wurde, beides vereinen zu können.

Ich fühle so mit Ihnen, Frau Klier, und verstehe, welches Opfer Sie dadurch erbracht haben. Wenn man mir meinen Beruf, meine Kreativität, meinen Lebensinhalt nehmen würde, würde ich ebenfalls einen inneren Tod sterben.

 

Freya Kliers Theaterarbeit der letzten Jahre hat stets auch mit Volkspolizei und Staatssicherheit zu tun. Wie auf einer Verbrecherjagd.

Ihre eigenen Spuren führen auch zurück in das Gefängnis.

„Ich möchte raus aus diesem Land.“

Dafür gab es für die angehende Schauspielstudentin 16 Monate Haft, ihr Bruder kam nicht so glimpflich davon:

wegen „schwerster Staatsverleumdung“ vier Jahre Zuchthaus.

Ihr Vater musste zuvor für ein Jahr ins Gefängnis, er hatte sich „an der Staatsmacht“ vergriffen.

Ich möchte an dieser Stelle aus Freya Kliers 1988 erschienenem Buch „Abreiß-Kalender – Ein deutsch-deutsches Tagebuch“ über den Theaterbetrieb in der ehemaligen DDR zitieren:

„...Aber hier geht es ja nicht um „normales Theater“. Hier handelt es sich um „Theater als Lockspitzelanstalt“, denn die Staatssicherheitsleute haben im Bühnenhaus ein „Kabuff“. Sein Fenster geht in den Zuschauerraum...

Während das Licht ausgeht, beherrscht mich die Vorstellung, wie die Stasi jetzt ihre Kamera auf die Zuschauer richtet.

Wie sie jede Regung, jedes Lachen im Film festhält, jede Reaktion auf eine politische Spitze.

Wie sie in den nächsten Wochen zeitlupenhaft einzelne Gesichter rausholen und Identitäten feststellen wird.

Jeder der hier ahnungslos im Zuschauerraum sitzt und meint, nichts Anderes zu tun, als eben Theater zu sehen, liefert ihnen genau jetzt ein Stück seines Psychogramms.“

– Ende des Zitats.

Als Künstlerin war Freya Klier keine Staatskünstlerin, sondern eine echte Künstlerin, d.h. dass sie regelmäßig Grenzen überschreiten musste.

Dass eine solche Arbeit mit Repressalien verbunden war, gerade in einem Unrechtsstaat, wie der DDR, in dem systematisch versucht wurde, die Menschen klein zu halten, ist offensichtlich.

Denn die Kunst hat die Kraft Menschen und ihre Gedanken groß und unkontrollierbar zu machen.

Kunst existiert aber nicht, wenn sie keine Grenzen überschreiten darf.

Dann ist Kunst tot, wie bei der Staatskunst in der DDR.

Einen besonderen Moment, gerade als Kulturschaffende, durften Sie, liebe Freya Klier, bei der Einheitsfeier am

3. Oktober 2016 in ihrer Heimatstadt Dresden, in der dortigen Semper Oper erleben:

Ministerpräsident Tillich erntete einen langen Beifall für seinen Satz:

„Beschämt erleben wir, dass Worte die Lunte legen können für Hass und Gewalt.“ 

Und ich darf Sie, Frau Klier, dann weiter zitieren:

„Und Bundestagspräsident Lammert hielt eine Rede von solch historischer Tiefe, wie wohl nur er das kann.

Immer wieder brandete Beifall unter den tausend Gästen auf, die ja aus verschiedenen politischen Richtungen kamen, aus Ost und West.

Spürbar länger und leidenschaftlicher wurde das Klatschen, und plötzlich entstand in der Semper-Oper eine Atmosphäre von Widerstand, wie ich sie aus unserem DDR-Theater erinnere, wenn es uns gelungen war, Momente von DDR-Kritik auf die Bühne zu bringen...

Es war ein Glücksmoment der deutschen Einheit in der Semper-Oper.“

– Zitat Ende.

Ich musste schmunzeln, als ich diese Worte von Freya Klier las, denn ich musste daran denken, dass es an diesem Tag keinen „Stasi-Kabuff“ mehr gab, aus dem heraus die emotionalen und höchst privaten Reaktionen der Zuschauer aufgenommen wurden. 

 

Der deutsche Verrat

Was Freya Klier damals nicht wusste, als sie verhaftet wurde, war, dass ihr Anwalt Wolfgang Schnur als IM bei der Staatssicherheit arbeitete und sie gegen ihren damaligen Mann, den Liedermacher Stephan Krawczyk und andere Bürgerrechtler ausspielte, um so die nicht freiwillige Ausreise von Freya Klier zu organisieren.

Sie, liebe Freya Klier, wurden verraten.

Verrat ist eines der großen Themen, wenn man die Geschichte der DDR betrachtet. Ein langsamer, schleichender Verrat.

Wenn aus Nachbarn Spitzel werden, aus Freunden Feinde und aus Verwandten Verräter.

Diese völlige Manipulation, wenn man nicht mehr weiß, was wahr und falsch, was Einbildung und Realität ist.

Am 2. Februar 1988, gleich nachdem Freya Klier erfahren hat, dass sie verraten und manipuliert worden ist, hat sie in der BRD einen Antrag auf Wiedereinreise gestellt.

Was für eine mutige Frau.

Freya Klier hätte sich sagen können, nun gut, jetzt bin ich im Westen, bin in Sicherheit und betrachte von nun an die Geschehnisse in der DDR von außen.

Aber das hat Freya Klier nicht gemacht.

Sie wollte zurück in die DDR, denn Ihr Kampf und das Ziel der Bürgerrechtsbewegung waren zu diesem Zeitpunkt nicht erreicht, zumal die Stasi der Bürgerrechtsbewegung im Winter 1987/88 stark zusetzte.

 

Sie, liebe Freya Klier, wurden von ihrem Anwalt also verraten. Er war ein Advokat des Bösen.

 

Der jesidische Verrat

Wir, Jesiden, wurden am 3. August 2014 in der Stadt Shingal im Nordirak auch verraten.

Verraten von unseren muslimischen Nachbarn und der Terrormiliz IS zum Fraß vorgeworfen.

Ganze Familien wurden aus dem Schlaf gerissen und hingerichtet, innerhalb weniger Minuten wurden aus Kindern Vollwaisen.

Die IS-Milizionäre hatten Schwerter dabei, haben Väter enthauptet, Frauen und Kinder verschleppt.

In dieser Nacht starben Menschen aus reiner Angst.

Als ich wenige Tage später als Journalistin in den Irak reiste und quasi über Nacht zur Kriegsberichterstatterin wurde, konnte ich die Angst der Menschen noch riechen.

Was die Gesichter der Überlebenden dieses Völkermords über den Zustand ihrer Herzen ausgesagt haben, kann ich nicht in Worte fassen. Es waren Zustände brachialster, unmenschlichster Gewalt.

 

Der historische Verrat

Ich muss an dieser Stelle aber auch aus Freya Kliers Buch „Verschleppt ans Ende der Welt“ über das Leid deutscher Frauen in Stalins Arbeitslagern zitieren:

„Über die Bevölkerung Ostdeutschlands brach das Inferno herein.

Rauch, Rausch und Rache.

An Scheunentoren wurden nackte Frauen genagelt, in die Vagina wurden ihnen Besenstiele gestoßen, nachdem ihre Kleinkinder umgebracht wurden. Eine Gewaltorgie ohnegleichen.“

– Ende des Zitats

Anderer Ort. Andere Zeit. Gleiches Muster.

Das menschliche Laster des Verrats bildet so eine weitere Parallele zwischen uns.

 

Freya Klier – Die Engagierte

Liebe Freya Klier, Sie werden heute unter anderem mit dem Franz-Werfel-Menschenrechtspreis ausgezeichnet für Ihr großes Engagement bei der Aufarbeitung des DDR-Unrechts.

Sie haben dies als Schriftstellerin getan und mit Büchern wie den bereits zitierten Abreiß-Kalender, oder mit „Lüg Vaterland. Erziehung in der DDR.“ oder mit

„Die DDR-Deutschen und die Fremden“ tiefe Einblicke in das krude System der DDR gegeben.

Zudem haben Sie als Zeitzeugin in unzähligen Veranstaltungen über den Unrechtsstaat der DDR, über „Diktatur und Demokratie“, aber auch gerade über ihr persönliches Schicksal berichtet.

Besonders wichtig ist Ihnen dabei Ihr ehrenamtliches Engagement in Schulen, wenn Sie junge Menschen über diese beiden getrennten Teile Deutschlands aufklären, was für die meisten heutzutage gar nicht mehr greifbar ist.

Sie haben über die Jahre tausende von Schülern erreicht und machen so die Schrecken der DDR erlebbar.

Auch hier finde ich wieder Parallelen zwischen uns, denn ich leiste ebenfalls Aufklärungsarbeit in Schulen mit meinem Dokumentarfilm „Hawar – Meine Reise in den Genozid“ über den Völkermord an den Jesiden.

Das Hauptziel meines Films ist eigentlich zu verdeutlichen:

Wehret den Anfängen!

Ich sage den jungen Menschen immer, dass jeder Völkermord mit Feindbildern in den Köpfen beginnt und dass wir die Werte des Grundgesetzes in dieser globalisierten Welt eben auch in den Bergen von Shingal verteidigen.

 

Gegen das Vergessen

Verehrte Freya Klier, Sie setzen sich aber auch vehement dafür ein, dass die Geschichte der DDR nicht verniedlicht und verharmlost wird durch eine vermehrt einsetzende nostalgische Betrachtung des Alltags in der DDR.

Sie machen deutlich, dass man die DDR immer nur über das Merkmal des Unrechtsstaates wahrnehmen kann und begründen dies sehr anschaulich in einem Interview mit der taz:

„...der Alltag in der DDR war furchtbar... was aber nicht bedeutet, dass es keine Leute gab, die in dieser Zeit verliebt waren und gute Erinnerungen daran haben...

Aber der Alltag der Menschen ist in den fünfziger Jahren ein völlig anderer als in den Achtzigern. Da war es Verschlissenheit. Am Anfang Aufbruch, dann Brutalität.

Dann kommt das steinerne Jahrzehnt. Man muss sich mal die Fotos ansehen. Der Alltag war, die Menschen klein zu machen.

Alle, die jetzt sagen, man müsse über den Alltag forschen, (...), machen genau das nicht.

Die beschönigen den Alltag, ohne ihn zu kennen.“

– Zitat Ende.

Umso wichtiger ist es, dass wir uns wieder ein historisches Geschichtsbewusstsein erarbeiten.

Freya Klier kämpft unermüdlich „Gegen das Vergessen“, damit sich Geschichte nicht wiederholt.

 

Das Fremde

Freya Klier ist auch unbequem und beschäftigt sich keineswegs nur mit der Vergangenheit, sondern setzt sich intensiv mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen auseinander.

Sie stellt sich Pegida in ihrer Heimatstadt Dresden und den diversen „-gida-Ablegern in Sachsen, Ostdeutschland und auch im Rest der Republik.

Freya Klier hält es für eine furchtbare Anmaßung, dass bei den Demonstrationen der Ruf der friedlichen Revolution von 1989 „Wir sind das Volk“ benutzt wird.

Sie hat sich aber nicht mit einer Zustandsbeschreibung zufriedengegeben, sondern ist in die Analyse übergegangen:

Sie hält nicht aufgearbeitete Vorurteile für eine Wurzel der Pegida-Demonstrationen.

Viele Teilnehmer seien in der komplett abgeschlossenen DDR stehengeblieben, sagte sie in einem Interview der «Leipziger Volkszeitung».

Dort sei Anpassung verlangt worden. Alle, die nicht der Norm entsprochen hätten, hätten Probleme bekommen.

All diese Versäumnisse seien nicht aufgearbeitet worden.

 «Diese Ressentiments sehe ich heute bei der Pegida wieder», sagte Klier.

In einer vielbeachteten Rede anlässlich des Sächsischen Bürgerpreises 2016 geht Freya Klier den spannenden Fragen nach:

„Was ist das Fremde? Ist es das Störende, gar das Verstörende? Warum löst das Wort etwas in uns aus, das uns ängstigt?“

Und Klier führt dann aus:

„Als fremd und verunsichernd galt fast alles, was nicht der optischen Norm entsprach.

 

Das betraf neben Behinderten auch jene winzige Minderheit von Ausländern, die sich ab 1980 in der abgeschotteten DDR aufhalten durften – die „vietnamesischen Vertragsarbeiter“, die

– und das ergänze nun ich - um sie gleich zu entmenschlichen, abfällig nur „Fidschis“ genannt wurden.

Auf die fremdenfeindlichen Übergriffe in den 1990er Jahren in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda möchte ich gar nicht weiter eingehen.

Es ist schon schlimm genug, dass wir ein Vierteljahrhundert später immer noch - oder wieder - solche Bilder ertragen müssen.

Freya Klier schrieb bereits 1990 in ihrem Essay „Die DDR-Deutschen und die Fremden“ Folgendes:

„Das ganze Ausmaß von Rechtsradikalismus, Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus wird erst jetzt sichtbar.

Wir kriegen das überhaupt nur dann zu fassen, wenn wir uns tief zu seinen Wurzeln hinuntergraben, wenn wir unsere eigene verkrustete Geschichte tabulos aufbrechen...“

– Ende Zitat.

Das ist jetzt 26 Jahre her.

Meine Damen und Herren, wir haben noch viel zu tun.

 

Die bösen Zwillinge

Dieser Herausforderung stelle ich mich auch in meiner Arbeit, bei der das Thema Integration zu meinem Lebensthema geworden ist.

Hier gehe ich auch der Frage nach, ob der zunehmende Rechtsdrift von immer mehr Deutschen die Situation der noch nicht gelungenen Integration von Flüchtlingen verschärft.

Wir erleben seit einiger Zeit eine gewaltige Renaissance des Rechtspopulismus, der von der Struktur bzw. der Ideologie eigentlich das Gleiche ist wie der Islamismus.

Ich bezeichne beide immer als die bösen Zwillinge. Beide verkörpern in sich eine bestimmte Form des Faschismus.

Die Rechtspopulisten, vor allem aus den neuen Bundesländern, sind für mich genauso wenig integriert wie die Islamisten, die die Frauenrechte in Frage stellen.

Alle ihre Anhänger wollen herrschen, und das ist das Gefährliche dieser Ideologien.

Unsere Werte werden sowohl von den Hasspredigern der Islamisten wie auch von den Hasspredigern der Rechten in Frage gestellt. 

Ja, wir haben in diesem Land eine geschützte Meinungsfreiheit.

Wir haben hier aber keine Faktenfreiheit.

Die gewaltbereiten Rechten auf der einen Seite und die gewaltbereiten Islamisten auf der anderen Seite arbeiten Hand in Hand und schaukeln sich gegenseitig hoch.

Wie gesagt: Das sind die bösen Zwillinge.

Sie bedingen einander.

 

 

Hinsehen und Wegschauen

Was wir Bürger alle gemeinsam haben – sei es in Ost oder West: Das Hinsehen und Wegschauen.

Die, die weggeschaut haben, schauen bis heute weg.

Die, die hingesehen haben und hinsehen, tragen hierfür zwar die Konsequenzen, sie leben aber auch bewusster.

Unsere heutige Preisträgerin hat sich für das Leben entschieden.

Oder um es mit Erich Kästner zu sagen:

"Wird's besser? Wird's schlimmer?"
fragt man alljährlich.


Seien wir ehrlich:
Leben ist immer lebensgefährlich.

 

Freya Klier – Die Unbequeme

Verehrte Frau Klier, Sie erhalten heute den Stiftungspreis insbesondere auch für ihre dokumentarisch angelegten Filme und Publikationen zum Schicksal ziviler deutscher Frauen und junger Mädchen am Ende des Zweiten Weltkrieges in Ostdeutschland und Südosteuropa.

 

Für ihren bereits 1993 produzierten Film „Verschleppt ans Ende der Welt“ begab sich Freya Klier mit drei damals verschleppten Frauen auf Spurensuche nach und in Sibirien.

Im gleichnamigen, 1996 erschienenen Buch ließ sie weitere Zeitzeuginnen zu Wort kommen und ergreifend von ihrem jahrelangen Leidensweg erzählen.

 

Film und Buch beschreiben nicht nur historisch fundiert die Situation zum Ende des Zweiten Weltkrieges.

Sie machen auch deutlich, wie das Schicksal hunderttausender Frauen im Westen dem „Lagergefecht der Generationen“ zum Opfer fiel und wie es in der ehemaligen DDR als „Verleumdung der Sowjetunion“ tabuisiert wurde.

 

Verschleppt, vergewaltigt, gedemütigt und schließlich als Zwangsarbeiterinnen missbraucht, mussten diese Frauen über Jahre unter unmenschlichen Bedingungen als „lebende Reparationen“ ihr Dasein fristen.

 

Freya Klier hat das persönliche Schicksal der Betroffenen, ihre tägliche Arbeit im Sägewerk, im Kohleabbau, in der Ziegelei und im Wald, begleitet von Hunger, Krankheiten, Entkräftung, Tod, im Winter bei eisiger Kälte und im Sommer bei sengender Hitze aufgearbeitet.

Freya Klier war einmal mehr die Unbequeme, hat einmal mehr genauer hingesehen auf ein Thema, das für viele schon durch den Staub der Geschichte verschwunden war und hat so einen wichtigen Beitrag geleistet, dass dieser Teil unserer Geschichte öffentlich besprochen wurde, um den betroffenen Frauen wieder einen Platz in unserer Gesellschaft geben zu können.

Freya Klier hat ihnen einen Teil ihrer verlorenen Würde wieder verliehen.

Hierfür möchte ich Ihnen meinen größten Dank aussprechen.

 

Vergewaltigung als Kriegsmittel

Freya Klier hat mit dieser Arbeit aber auch ein weiteres Thema enttabuisiert:

Die Vergewaltigung von Frauen als Kriegsmittel.

Dieses grausame Vorgehen gibt es, seitdem es Kriege gibt und wurde von zu vielen Kriegsparteien angewendet.

So wurden auch deutsche Frauen in Kriegsgefangenschaft systematisch vergewaltigt.

Sie tauchten in der Nachkriegspolitik aber nicht auf, waren gar ein Tabuthema.

 

Vergewaltigungen durch den IS

An dieser Stelle möchte - oder eher muss ich - die letzte Parallele für heute ziehen und nehme Sie, werte Zuhörer, noch einmal mit nach Shingal zu jedem 3. August 2014:

Wie schon geschildert, überfielen in dieser Nacht die Schergen des IS diesen beschaulichen, ländlichen Ort und verwandelten ihn innerhalb von Minuten zur Hölle auf Erden:

Junge Frauen wurden sofort auf Pickups verladen und mitgenommen.

Diese Frauen wurden vergewaltigt und anschließend für Cent-Beträge auf Sklavenmärkten verkauft.

Diese Gewaltexzesse jener Nacht, die sich seitdem täglich wiederholen, sind für uns eigentlich völlig unvorstellbar, selbst wenn wir sie durch Erzählungen plastisch geschildert bekommen.

 

Die Menschen wurden nicht nur enthauptet, sondern es ging dabei auch um Kannibalismus, Kinder wurden im Beisein ihrer Eltern zerfleischt oder den kleinen Babys wurde das Genick gebrochen.

Das waren Zustände brachialster Gewalt.

Es war die absolute Entmenschlichung von Menschen.

Die Vergewaltigung unserer Frauen und Kinder ist als Kriegsmittel durch den IS eingesetzt worden, um unsere kleine Religionsgemeinschaft auszulöschen.

Als ich mit Frauen gesprochen habe, die aus den Fängen des IS fliehen konnten, war das Schlimmste für mich, dass ich in ihren Augen kein Leben mehr sehen konnte, ihre Herzen waren leer.

Sehr bemerkenswert war auch, dass sie es immer schlimmer fanden, was mit den anderen geschah, nicht was mit ihnen selbst passierte.

 

In dem Moment, in dem andere Mädchen abgeholt wurden, war dies für die zurückgebliebenen Frauen der Moment, in dem sie fast wahnsinnig wurden.

Ich erinnere mich an eine 9-Jährige, dessen jüngere Schwester abgeholt wurde und die die IS-Terroristen anflehte: „Nehmt mich, nicht sie!“

Ich erinnere mich auch an eine 10-Jährige, die befreit worden ist und die nach ihrer Rückholung gefragt wurde, ob sie vergewaltigt worden sei.

Sie hat mit „nein“ geantwortet und gesagt, dass sie nur neben einem Mann geschlafen hätte. Aber dieses Mädchen war schwanger.

Und ich erinnere mich an eine Zeitzeugenaussage aus Freya Kliers bewegenden Buch „Verschleppt bis ans andere Ende der Welt“:

 

„Eva-Maria S. erinnert sich noch gut daran, wie sie ihren Vater anfehlte, sie zu erschießen. Lieber wollte das junge Mädchen aus dem ostbrandenburgischen Dorf Grochow sterben als diese Gräuel noch einmal am eigenen Leib zu erleben.

„Wir hatten unser Gesicht mit Ruß und Kuhmist beschmiert und dunkle Kleider angezogen, um nicht begehrenswert zu wirken. Aber es nutzte nichts.

Die russischen Soldaten tranken und winkten uns heran...“

Andere Zeit. Anderer Ort. Aber immer das gleiche Muster.

Und noch einen Unterschied gibt es:

Aktuell sind immer noch mehr als 3.300 jesidische Frauen in IS-Gefangenschaft.

 

Hawar – Der Schrei nach Hilfe

Wie bereits erwähnt heißt mein Dokumentarfilm über den Genozid an den Jesiden „Hawar“.

„Hawar“ ist kurdisch und bedeutet „Schrei nach Hilfe“.

Bei unserem Treffen vor einigen Wochen hat mir Freya Klier gesagt, dass sie sich wünsche, dass dieser „Schrei nach Hilfe“ am heutigen Tag in der Paulskirche zu Frankfurt gehört wird.

Dafür danke ich Dir von Herzen, Freya!

 

Resolution und Franz Werfel

Ich möchte diesen Schrei nach Hilfe der Jesiden also artikulieren und fordere, dass der Völkermord an den Jesiden durch eine Resolution des Deutschen Bundestags endlich offiziell anerkannt wird.

An dieser Stelle möchte ich kurz auf den Namensgeber des heutigen Preises eingehen:

Während seiner zweiten Nahostreise Anfang 1930 traf Franz Werfel in einem Waisenhaus in Syrien Überlebende des Völkermordes an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges.

Diese Begegnung inspirierte ihn zu seinem Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“, in dem das Schicksal von etwa 5000 Armeniern geschildert wird, die sich vor der osmanischen Armee auf den Berg Musa Dagi, den Mosesberg, geflüchtet hatten.

 

In diesen Tagen ist genau dieses Gebiet Schauplatz von heftigen Angriffen der türkischen Luftwaffe, wobei auch immer wieder Jesiden umkommen, weil sie ethnische Kurden sind, die sich weder vom „IS“ noch von den Sicherheitskräften Präsident Erdogans töten lassen wollen, sondern sich - wie die Armenier damals - tapfer verteidigen.

Wir wissen, dass die Mühlen der Politik manchmal langsam mahlen, aber immerhin hat sich der Deutsche Bundestag mit seiner Armenien-Resolution in diesem Jahr, über 80 Jahre nach Franz Werfel, auch mit diesem Thema beschäftigt.

In Bezug auf uns Jesiden und den Völkermord durch den IS wäre es jedoch erstrebenswert, wenn der Bundestag dies spätestens Anfang des nächsten Jahres auf seine Tagesordnung setzen würde.

Liebe Frau Steinbach, ich hoffe sehr, Sie bei diesem Thema an meiner Seite zu wissen.

 

Nur ein paar Flugstunden

Angesichts der historisch einzigartigen Situation, dass es sich hier um einen fortwährenden Völkermord handelt, fordere ich die Weltgemeinschaft zum entschlossenen Handeln auf – auch wenn es nicht Eure Toten sind.

Gerade in diesem Moment werden wieder jesidische Frauen vergewaltigt, als menschliche Schutzschilde im Kampf um Mossul missbraucht oder für ein paar Cents auf Sklavenmärkten verkauft.

Alles nur ein paar Flugstunden entfernt.

Alles im 21. Jahrhundert.

 

Du sollst dich erinnern

Heute haben wir uns hier versammelt, um Freya Klier zu ehren.

Getreu ihrem Lebensmotto: „Du sollst dich erinnern“ stellt sich Freya Klier selbst immer wieder der Aufgabe, Menschenrechtsverletzungen ans Licht zu bringen und sowohl in ihrer politisch-historischen bzw. wissenschaftlichen als auch in ihrer individuellen Dimension zu betrachten.

Ihre Arbeit mit Zeitzeuginnen verewigt nicht nur persönliche Schicksale als Mahnung für die Nachwelt, sondern gibt der Geschichte Gesichter und Namen.

Auf diese Art ermöglicht sie ihren Lesern und Zuschauern einen empathischen Zugang zu vergangenen Schrecken, wie etwa Verschleppung, Zwangsarbeit und Lagerhaft, und somit zum besseren Verständnis von Geschichte.

 

Ich möchte an dieser Stelle aus der offiziellen Begründung der Jury zitieren:

„Mit der Entscheidung für Freya Klier macht die Jury des Franz-Werfel-Menschenrechtspreises auf das Schicksal von Frauen in Kriegssituationen aufmerksam.

Auch in der heutigen Zeit wiederholen sich die Muster der Gewalttaten gegen Frauen und Kinder.

Ob im Balkankrieg oder aktuell in den Gebieten unter der Kontrolle des sogenannten IS werden Frauen und Mädchen, meist aus religiösen und ethnischen Minderheiten kommend, aus ideologischen und strategischen Gründen vergewaltigt, gefangen gehalten oder versklavt.“

 

Schluss

Freya Klier ist nie den einfachen Weg gegangen und hat Hürden überwunden, an den die meisten von uns wohl gescheitert und zerbrochen wären.

Sie hat sich diesen Weg nicht ausgesucht, aber sie ist ihn gegangen – bis zum Ende – hat sich dabei aber wichtige Eigenschaften nie nehmen lassen:

   ihren Optimismus,
 

ihre Leichtigkeit,

ihre Unbeschwertheit

und die Liebe zu ihren Nächsten.

Das nennt man Resilienz.

Bei Freya Klier geht es um alles, nur nie um sie selbst.

Ich würde gerne noch von meinem ersten Treffen, welches ich mit Freya Klier haben durfte, erzählen:

Ich stellte ihr die Frage, an was sich die Menschen erinnern sollten, wenn sie an Freya Klier denken.

Sie antwortete: An mich? Ach, ich bin doch nicht wichtig.

Lass uns doch lieber über deine Arbeit und die schreckliche Situation der Jesiden sprechen.

Also, schilderte ich Ihr meine Erlebnisse im Irak, wie ich es heute bei Ihnen getan habe.

Es wurde ein sehr emotionales Treffen: wir weinten, wir lachten und ich wusste, dass ich einen Herzensmenschen getroffen habe.

Freya Klier ist frei von Selbstmitleid. Sie ist nicht vereinnahmbar.

Sie kämpft für andere. Sie weint mit anderen.

Sie weiß, dass Freiheit kein selbstverständliches Gut ist. Sie musste hierfür immer wieder kämpfen, wie ihre beeindruckende Vita zeigt.

Freya Klier hat folgendes Zitat von Mahatma Gandhi mit Leben erfüllt:

„Sei, Du selbst die Veränderung, die Du Dir wünschst für diese Welt.“

Ein Fest für Freya

Wenn der Sinn des Lebens ist, Spuren im Leben anderer zu hinterlassen, dann ist dies Freya Klier gelungen.

Auch wenn sie dies, in der ihr gegebenen Bescheidenheit, sicherlich wieder abweisen wird.

Liebe Freya, ich feiere Dich.

 

Freiheit, ja klar!

Schließlich möchte ich mit einer phonetischen Annäherung an Freya Klier enden:

Freya klingt nach „Freiheit und ja“!

Und Klier hört sich nach „klar“ an.

Zusammen macht das für Freya Klier: „Freiheit, ja klar!“

Meine Damen und Herren, bitte begrüßen Sie die diesjährige Gewinnerin des Franz-Werfel-Menschenrechtspreises bei mir auf der Bühne.

Herzlichen Dank.

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