Franz-Werfel-Menschenrechtspreis 2014

Klaus Hänsch Präsident des Europäischen Parlaments a.D.

Die Wolfskinder

Laudatio für Rick Ostermann zur Verleihung des Franz-Werfel-Menschenrechtspreises in der Paulskirche zu Frankfurt, am 2. November 2014

I.

Ja, geht denn das? Den Franz-Werfel-Menschenrechtspreis bekommt ein Regisseur und Drehbuchautor für einen Spielfilm. Für ein Erstlingswerk zumal, nicht für ein ganzes Lebenswerk. Es geht nicht nur – es geht gar nicht anders.

Die Wolfskinder: Keine benannten Orte, nur eine grobe geographische Einordnung: Ostpreußen - die Memel - Litauen. Die Zeit: 1946. Es ist Sommer. Zwei Jungen, vielleicht zehn, zwölf Jahre alt, sind, dem letzten Rat, der letzten Bitte, dem letzten Willen ihrer sterbenden Mutter folgend, auf dem Weg über die Memel nach Litauen. Sie sind, vorübergehend gemeinsam mit drei, vier anderen Jungen und Mädchen, auf dem Weg aus einer Heimat, die keine Geborgenheit, keinen Schutz mehr bietet, in eine Fremde, die sie abweist und bedroht.

Es ist ein wortkarger Film. Er lässt Geräusche sprechen, Musik, und die Gesichter der Wolfskinder. Am eindringlichsten aber spricht die berückende und bedrückende Schönheit der Bilder von einer kaum berührten Natur. Nie ist mir Rainer Maria Rilkes

9. Duineser Elegie so lebensnah und wahr erschienen, wie bei der Betrachtung dieses Films: „Das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang“. Und: „Das Schöne, das gelassen verschmäht, uns zu zerstören“.

Auch die so schön fotographierte Natur des Memellandes verschmäht es gelassen, die Wolfskinder zu zerstören. Das überlässt sie in geradezu schmerzhafter Gleichmütigkeit den Menschen selbst. Sie deckt und versteckt die Verfolgten wie die Verfolger, sie hilft den einen wie den anderen, sie lässt sich ungerührt von beiden benutzen. Die Angst und der Lebenswille, die Einsamkeit und die Gemeinsamkeit der Gejagten sind ihr gleichgültig. Ebenso gleichgültig ist ihr der mörderische Eifer der Jäger - es sind wohl sowjetische Soldaten, aber so werden sie nie benannt, sie heißen immer nur „die Soldaten“. Gleichgültig sind ihr die litauischen Freischärler, die ihrerseits Verfolger und zugleich Verfolgte sind. Und gleichgültig ist ihr auch die angstvoll kalkulierende Hilfsbereitschaft einiger litauischer Bauern.

Es ist ein Film, der mit verstörender Lakonie zeigt, wie die Abwesenheit von jederlei Rechts das elementarste aller Menschenrechte zuschanden macht: Das Recht auf Leben.

Und der zugleich zeigt, wie die Kinder für sich und ihresgleichen Verantwortung übernehmen. Wie sie einander helfen, tragen und trösten. Wie sie das Wenige, das sie zum Überleben finden, miteinander teilen. Die Wolfskinder sind ihrer Menschenrechte beraubt, aber sie bewahren ihre menschliche Würde.

In der wohl verstörendsten Szene tötet ein Wolfskind ein anderes, um der Entdeckung durch die Verfolger zu entgehen - und setzt dann anscheinend gleichmütig seinen Weg fort. Die Missachtung, der Verlust der Menschenrechte kann Opfer zu Tätern machen.

Der Film dokumentiert nicht Vertreibungsgeschichte. Schon gar nicht verlegt er zeitgeschichtliche Nachhilfe ins Kino. Er hebt an keiner Stelle den Zeigefinger. Er stellt keine Fragen, weder nach dem Vorher, noch nach dem Nachher. Und er gibt keine Antworten, weder auf das Warum, noch auf das Wozu. Nicht, weil er den Fragen ausweichen wollte oder den Antworten nicht traute, sondern weil die Wolfskinder zu jung waren, um sich solchen Fragen zu stellen und nach Antworten zu suchen. Ihnen konnte es um nichts anderes gehen als darum, das nächste Versteck zu suchen, den nächsten Bissen zu finden, der nächsten Gefahr zu entgehen.

Er traut sich, einen kleinen Ausschnitt aus dem großen Kapitel der Vertreibungen zu zeigen, ohne die ewig gleichen Argumente, Vorwürfe und Schuldzuschreibungen auszutauschen, und Anteilnahme zu wecken ohne dieses aufrechnende und dabei immer auch abrechnende „Ja-aber“, „Die anderen haben doch auch“, „Zuvor haben die Deutschen“ und so weiter und so weiter.

Rick Ostermann klagt nicht an. Er verurteilt nicht. Er balanciert nicht. Er steht auf der Seite der Kinder, die, wie Hans und Fritzchen an der Nordostecke Deutschlands, ihr Recht auf Leben mit kreatürlicher Zähigkeit verteidigen. Ich sehe „Die Wolfskinder“ und balanciere nicht, wenn ich auch an Jozef Zych denke, ehemals Marschall des polnischen Sejm, der mir einmal erzählt hat, wie er als Sechsjähriger, von den Deutschen gejagt, sich in den Karpatischen Wäldern im Südosten Polens verstecken musste. Wir wurden Freunde.

Rick Ostermanns Film entnationalisiert auf eine stille und gerade deshalb so eindringliche Weise die Angst und das Leid der Opfer, gleich welcher Verfolgung oder Vertreibung. Kunst kann Flucht und Vertreibung, Opfer und Täter, Schuld und Vergebung entnationalisieren, Erinnerung kann es nicht. Und Geschichte darf es nicht. Lassen sie mich auf meine Weise sagen, was ich damit meine.

In einer Februarnacht 1945 habe ich als sechsjähriger Junge mit Mutter, Geschwistern und Großeltern das schlesische Sprottau verlassen. Die Geräusche der nahenden Front im Ohr, die Furcht vor „dem Iwan“ im Nacken, vor einen Handwagen gespannt, in einen Güterwagen gepfercht, quer durch das zusammenbrechende Reich ziehend, in fremden Kellern besorgt auf näherkommende Bombeneinschläge lauschend, und nur ein Ziel vor Augen: Uns selbst und ein paar Habseligkeiten in eine Sicherheit zu bringen, von der niemand wusste, wann und wo sie zu finden sein würde.

Fünfzig Jahre danach besuche ich als Präsident des Europäischen Parlaments meine Geburtsstadt. Sie heißt nun Szprotawa und ist polnisch – und liegt noch genauso wie früher seitab, arm und unbedeutend am Rande der niederschlesischen Heide. Bei einem festlichen Abendessen erzählt mir die Gattin des Woiwoden, wie sie, fünfzig Jahre zuvor, in Schlesien ankam. Von den neuen sowjetischen Machthabern aus Litauen vertrieben, die Schrecken des Krieges und der deutschen Besetzung hinter sich, voller Angst vor dem neuen fremden Land und nur ein Ziel vor Augen: Sich selbst und ein paar Habseligkeiten in eine Sicherheit zu bringen, von der sie nicht wusste, ob sie hier zu finden sein würde.

Szprotawas Bürgermeister, der wie ich der „Erlebnisgeneration“ angehört, fasst es so zusammen: „Ihr wolltet hier nicht weg und wir wollten hier nicht her.“ Einfacher, menschlicher, und wahrhaftiger kann man es nicht sagen. Wir waren alle nicht mehr als ein winzige Partikel in den ungeheuren Strömen entwurzelter Menschen, die überall in ganz Europa hin und her getrieben wurden: Flüchtende, Deportierte, Evakuierte, Entwurzelte, Vertriebene, Heimkehrende, Suchende – zu Fuß und auf Krücken, auf Planwagen hockend, um Plätze in vollgestopften Zügen oder auf überladenen Schiffen kämpfend - millionenfach.

Das Europa unserer Kindheit war in Bewegung: Es war auch damals ein Europa der Freizügigkeit. Aber für Panzer und Bomber, statt für Lastwagen und Ferienflieger, für Deportationen und Vertreibungen, statt für Interrail und ERASMUS. Wo wir uns heute in dem Ärger und in der Kritik über Europas Unzulänglichkeiten geradezu wohlig baden, wateten die Europäer damals durch Blut und Hass, Verwüstung und Verzweiflung. Glauben Sie mir, wir sollten dieses zur Union vereinigte Europa der Verständigung, der Zusammenarbeit, der Versöhnung und des Friedens hüten und verteidigen - auch und gerade dann, wenn es etwas kostet.

II.

Das zwanzigste Jahrhundert war in ganz Europa eines der Vertreibungen und Deportationen: Es mit dem Völkermord an den Armeniern und die Vertreibung der anatolischen Griechen begonnen, das ganz und gar singuläre deutsche Verbrechen der Vertreibung und Ermordung Millionen europäischer Juden gesehen, den mörderischen „Generalplan Ost“ der Nazis, die in der Antihitlerkoalition vereinbarten oder geduldeten Vertreibungen der Deutschen aus Ost- und Mitteleuropa, und es endete die nationalistisch-ethnischen Vertreibungen im zerfallenden Jugoslawien.

Unterschiedliche Gründe, unterschiedliche Absichten, unterschiedliche Grausamkeiten. 60 bis 80 Millionen Europäer, Juden, Griechen, Polen, Russen, Deutsche, Finnen, Ungarn, Bosnier, Kosovaren und viele andere. Die Furchen dieser Völkerverschiebungen und Morde sind im Antlitz des heutigen Europa tief eingegraben. Sie sind Narben, die von Zeit zu Zeit immer noch schmerzen.

Die europäischen Völker haben eine gemeinsame Vergangenheit, aber keine gemeinsame Erinnerung.

Der spanische Schriftsteller Jorge Semprun, dessen Lebenswerk eine Anklage gegen die Grausamkeiten von Exil und Deportation war, hielt es für „eine der wirksamsten Möglichkeiten, der Zukunft des vereinten Europa, besser gesagt, des wiedervereinigten Europa, einen Weg zu bahnen, wenn wir unser Gedächtnis, unsere bislang getrennten Erinnerungen miteinander teilen“. Der Historiker Bronislaw Geremek, polnischer Außenminister und mein Kollege im Europäischen Parlament, gab zu bedenken, dass es

„weitaus leichter“ sei, „Wirtschaften und Verwaltungen zu integrieren, als Erinnerungen zu vereinigen“.  Der eine wie der andere hat Recht.

Die neuen mittel- und osteuropäischen Staaten in der Europäischen Union haben eine andere Ansicht über das 20. Jahrhundert als die alten im Westen und Süden. Die Vertreibung der Juden aus Deutschland und der Holocaust war ein deutsches Verbrechen mit europäischen Verstrickungen und einzigartig in seiner Absicht und Fürchterlichkeit. Dennoch muss die Erinnerung an Naziterror und Shoah es ertragen, dass auch die Opfer des „Generalplan Ost“ der Nazis, die Opfer der sowjetisch- kommunistischen Herrschaft in den baltischen Staaten und in Polen ihren eigenen Platz in der Erinnerungskultur des wiedervereinigten Europa finden wollen.

Und die wiederum müssen es ertragen, dass auch die Ermordung Tausender Polen in Wolhynien und Galizien durch ukrainische Nationalisten in den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zu den europäischen Erinnerungen gehören, wie die Opfer des Franco-Regimes in Spanien, und wie Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem Osten Deutschlands und Europas. Und zu dieser europäischen Erinnerung gehören auch die Opfer der kommunistischen Diktatur in Deutschland – wir sollten sie nicht so schnell vergessen.

Bei all dem geht es nicht um Gleichsetzung unvergleichlicher Verbrechen, sondern um den gleichen Respekt vor den Opfern.

Das alles gehört zur geschichtlichen Wahrheit Europas. Nach ihr müssen wir suchen und sie müssen wir akzeptieren. Dazu gehört Mut, weil die Völker Europas alle miteinander ihre Geschichte „entlügen“ müssen, wie es Altbundespräsident Roman Herzog vor Jahren einmal gefordert hat. Und Mut gehört auch dazu, in der europäischen Geschichte und Gegenwart nicht Trennende, sondern das Gemeinsame zu suchen.

Auch das ist europäische Wahrheit. Nur aus der gegenseitigen Akzeptanz ihrer Geschichte kann Vertrauen und Versöhnung zwischen den europäischen Völkern wachsen. Auf diesem Weg sind wir seit 1989 ein unerwartet großes Stück vorangekommen. Erkennen wir es gemeinsam an.

Die individuellen Erinnerungen erlöschen allmählich. Das ist der natürliche Verlauf. An ihre Stelle treten kollektive Erinnerungskulturen. Vor einigen Wochen hat die Bundesregierung beschlossen, einen nationalen Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung einzuführen. Das ist gut so. Wir haben zu einem guten Teil Erika Steinbach zu verdanken, ihrer Hartnäckigkeit und unermüdlichem Drängen.

Der Gegenstand der Erinnerung ist die Vergewisserung unserer Identität als Einzelne wie als Nation. Jedes Volk braucht das, auch unseres. Aber das Ziel der Erinnerung ist nicht Grenzverschiebung und Restitution, es ist Versöhnung auf der Grundlage des Heutigen. Alle Völker Europas brauchen sie, auch wir. Wenn wir aber darauf beharren, mit rückwärtsgewandtem Kopf in die Zukunft zu gehen, werden wir zur Salzsäule erstarren, wie Lots Weib beim Blick zurück auf Sodom und Gomorrha.

Wir können die unterschiedlichen Erinnerungen in Europa nicht zu einer gemeinsamen verschmelzen, aber wir können sie durch gemeinsame Projekte transzendieren. Wir können aus unserem Europa, das doch die Idee der Menschenrechte geboren und weiterentwickelt, aber immer wieder auch vergessen und verraten hat, mit unseren Erinnerungen, unserer Kraft und unserem unbeirrbaren Willen zu Freiheit, Recht und Versöhnung ein Beispiel für die Welt machen.

III.

Rick Ostermanns berührender und im Wortsinne hoffentlich „bewegender“ Film erlaubt, nein, erzwingt Assoziationen mit dem Schicksal der Millionen flüchtender und verfolgter Menschen in der Nachbarschaft Europas. Die Wolfskinder von heute heißen „unbegleitete Kinder“. So werden sie in der kühlen internationalen Behördensprache genannt. Nein, nicht „genannt“: „bezeichnet“. Im vergangenen Jahr, 2013, gelangten 2500 „unbegleitete Kinder“ nach Deutschland, teilt das Bundesamt für Migration mit. Weltweit sind wohl mehr als 20 000 unterwegs.

Sie kommen aus Nordafrika, aus Eritrea und dem Sudan, aus Syrien, Palästina, Iran und Afghanistan … Sie kommen über das Mittelmeer wie die Wolfskinder über die Memel. Wie die Wolfskinder haben sie Dinge gesehen, die Kinder nicht sehen sollten. Wie die Wolfskinder haben sie Mütter, die irgendwo in Afrika eines ihrer Kinder „nach Europa“ schicken, wie die sterbende Mutter in Rick Ostermanns Film ihre beiden Jungs nach Litauen schickte.

Für die Wolfskinder waren Bauernhöfe in Litauen die Verheißung in der Verzweiflung. Für die unbegleiteten Kinder ist es Europa. Und wie die Wolfskinder auf den verstreuten Bauernhöfen in Litauen als kleine Arbeitssklaven überlebten, arbeiten die unbegleiteten Kinder heute auf Gemüseplantagen in Südeuropa. Sie streunen und stehlen sich durch das Dickicht der Städte Europas wie die Wolfskinder durch die gleichgültige Schönheit des Memellandes.

Und auch anderswo in der Welt durchschwimmen sie Flüsse, klettern über Zäune oder kriechen unter ihnen hindurch. Texas schickt 1000 Nationalgardisten, um die Grenze zu sichern, gegen die Kinder, die aus Mexico, Guatemala, Honduras, El Salvador vor der Gewalt, der organisierten Kriminalität, den Drogen und der Armut in die Vereinigten Staaten von Amerika flüchten.

Ja, rechtlich ist für die „unbegleiteten Kinder“ gesorgt heute, in Deutschland und in Europa. Es gibt deutsche Gesetze, es gibt EU-Verordnungen und -Richtlinien. Aber die Kinder weichen den Regeln unserer Behörden aus. Sie trauen uns nicht, auch wenn sie nicht abgeschoben werden dürfen. Sie entgehen den Fernsehkameras. Sie werben nicht mit traurigen Augen in den Armen ihrer Mütter um Sympathie und Mitleid. Ihre Augen sind lauernd, scharfgestellt, auf das Überleben gerichtet – wie die Augen der Wolfskinder.

IV.

Fünfhundert Jahre lang sind wir Europäer in die Welt hinausgegangen, mit unseren Waren und Waffen, mit unseren Ideen und Ideologien. Jetzt kommt die Welt zu uns zurück, mit ihren Konflikten und Kriegen und mit ihren Menschen. Im 21. Jahrhundert werden die Bevölkerungsbewegungen - wir mögen sie nennen wie wir wollen - zu einer der ganz großen Herausforderungen für Deutschland und Europa. Experten rechnen mit 200 Millionen Umweltflüchtlingen bis 2050 - vertrieben durch Hunger, Armut, Terror, Krieg und Umweltkatastrophen. Ganz Europa wird zu einem Einwanderungskontinent - wie er das seit Tausenden von Jahren immer wieder gewesen ist.

Wir werden sie nicht durch das Meer und nicht durch Mauern aufhalten. Wir können sie nicht mit Stacheldraht und Paragraphen einzäunen. „Mare Nostrum“ oder „Triton“ sind keine Antwort auf den Hilfeschrei. Wir werden nicht allen helfen können, das ist klar.

Aber es ist kein Grund, keinem zu helfen. Deshalb muss Europa eine gemeinsame Einwanderungspolitik finden. Wir müssen gemeinsame Regeln und Gesetze schaffen, die der Migration das Desaströse und der Hilfe das Ungerechte nehmen.

Angesichts der Zahl der Flüchtlinge, die nach Europa kommen und bleiben dürfen, ist die Behauptung, Europa schotte sich ab, ebenso unsinnig und falsch wie die Behauptung, das Boot sei voll. Aber widersinnig ist es, wenn wir Menschen aus Staaten, die schon als Beitrittskandidaten zur Europäischen Union anerkannt sind, immer noch den Status von Verfolgten einräumen.

Wenn es heißt, Deutschland nehme so viel Flüchtlinge auf wie kein anderes Land in Europa, stimmt das und meint häufig auch: Nun reicht es erstmal, jetzt sind die anderen dran“. Und wenn von diesen anderen dann manche darauf verweisen, dass sie - pro Kopf - deutlich mehr aufnehmen als Deutschland, meinen sie damit auch, dass unser Land mehr tun müsste und könnte als das ihre. Das eine wie das andere ist statistisch richtig. Und doch ist diese statistikhuberische Debatte beschämend. Denn es geht nicht nur um Zahlen, es geht auch darum, wie wir mit ihnen umgehen.

Wo die Wolfskinder ankamen, war die Sowjetunion. Dort durfte es sie nicht geben. Sie blieben rechtlos, allein auf die Menschlichkeit litauischer Bauern angewiesen, und bezahlten es mit dem Verlust ihrer Identität.

Wo wir Flüchtlinge und Vertriebene von 1945/46 ankamen war Deutschland. Die Einheimischen nahmen uns in ihren Häusern und Wohnungen auf. Das ging nicht ohne „Einquartierungen“, nicht ohne administrativen Zwang also. Was wir heute als Willkommenskultur aufbauen wollen, war damals durchaus nicht überall verbreitet. Aber wir kamen in der gleichen Kultur an, in der gleichen Sprache, wenn es auch Zeit brauchte, bis wir „zuhause“ waren.

Die Flüchtenden heute kommen in ein Land, dessen ganze Kultur, Sprache, Geschichte, Traditionen, Lebensweisen ihnen viel fremder, undurchschaubarer und abweisender sind als es das deutsche Schleswig meinen schlesischen Eltern 1945 erschien. Sie mussten, wie alle anderen auch, ihr Leben fast von Null an neu aufbauen. Aber sie konnten anfangen, sie durften arbeiten, sie bekamen eine neue Perspektive. Das ist es, was auch die vielen Tausend brauchen, die heute in unser Land kommen, die heute Aufnahme in Deutschland suchen: Schnelle erste Hilfe und eine Perspektive. Asyl oder Einwanderung, Heimkehr oder Bleiben.

Dafür muss als erstes die Blockade aufgehoben werden, die ihrer raschen Eingliederung in Schule und Beruf entgegensteht. Das fordert auch das Zentrum gegen Vertreibungen, das heute den Franz-Werfel-Menschenrechtspreis verleiht: Den Flüchtlingen eine würdige Aufnahme zu gewährleisten und ihnen schneller als bisher den Zugang zum Arbeitsmarkt zu öffnen. Das nenne ich einen würdigen Umgang mit unseren eigenen Erinnerungen an Flucht und Vertreibung.

Rick Ostermann erinnert an das Schicksal von Kindern am Rande der großen europäischen Vertreibungsgeschichte des vorigen Jahrhunderts, ein Schicksal das fast dem Vergessen anheimgefallen war. Es ist eine Erinnerung, die wir der menschlichen Würde der heute achtzig- oder neunzigjährigen ehemaligen Wolfskinder schulden. Sie erinnern uns daran, dass überall da, wo Menschen vertrieben werden oder flüchten müssen, Menschenrechte missachtet und verraten werden. Diesem Verrat, dieser Missachtung müssen wir alle widerstehen, hier und überall, heute und immer.

Für diese Erinnerung danken wir Rick Ostermann heute mit dem Franz-Werfel- Menschenrechtspreis.

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