Franz-Werfel-Menschenrechtspreis 2012

Erika Steinbach

Rede zur Verleihung des Franz-Werfel-Menschenrechtspreises am 21. Oktober 2012 an den Regisseur Rick Ostermann

Anrede,

zum sechtsen Male verleiht die Stiftung ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN ihren Franz-Werfel-Menschenrechtspreis.

Alle unsere Gäste begrüße ich sehr herzlich hier in der Frankfurter Paulskirche, einem besonderen Ort.

Ich freue mich über die zahlreichen Ehrengäste.

Ein besonderer Gruß und Dank gilt dem Hausherrn, Herrn Stadtkämmerer Uwe Becker.

Wir freuen uns, dass Ministerpräsident Volker Bouffier Schirmherr dieser Preisverleihung ist und begrüßen sehr herzlich den Vertreter unseres Patenlandes Hessen, Herrn Staatsminister Michael Boddenberg.

Ein besonderer Gruß gilt natürlich unserem diesjährigen Preisträger, Ihnen lieber Professor Karl Schlögel.

Was wäre die schönste Preisverleihung ohne einen guten Laudator.

Ich freue mich, dass Thomas Schmid heute diese Verantwortung für uns trägt. Herzlich willkommen lieber Herr Schmid.

Nahezu 70 Jahre sind seit dem Beginn des Massenexodus von 15 Millionen Menschen, seit der Massenvertreibung Deutscher aus ganz Mittel-Osteuropa vergangen und mehr als 70 Jahre seit der Deportation der Russlanddeutschen.

Ist es nicht an der Zeit, die Erinnerung daran einschlafen zu lassen?

Ist es nicht an der Zeit, einen endgültigen Strich unter diesen Teil europäischer Geschichte zu ziehen?

Ist es nicht an der Zeit, diese deutsche und zugleich europäische Tragödie mit der Erlebnisgeneration zu Grabe zu tragen und dieses Kapitel zu schließen?

Selektive Geschichtsbetrachtung führt je nach Standpunkt in die unterschiedlichsten Sackgassen. Auf gar keinen Fall aber in die Zukunft.

Deshalb: Die Zeit ist reif für eine vollständige Betrachtung.

In jeder dritten Familie ist Vertreibung auf die eine oder andere Art Teil der Familiengeschichte. Sie ist zumeist nicht Teil des Alltags, aber in den Tiefen des Bewusstseins rumoren die unverarbeiteten Traumata. Bis in die nächste Generation. Aber mit und in diesen Familien überlebt in Teilen auch die Siedlungs- und Kulturgeschichte Mittel-, Ost- und Südosteuropas. Dieses Wissen und dieses Erbe ist ein Schatz und für alle in Deutschland unverzichtbar.

Deutschland wäre nicht die Kulturnation, die es ist, wenn uns das kulturelle Erbe der Heimatgebiete der Vertriebenen fehlen würde.

Geradezu exemplarisch wurde das in diesem Jahr an den zahllosen Feierlichkeiten aus Anlass des 300. Geburtstages Friedrichs des Großen deutlich.

Unser historisches Erbe umfasst alles, was den Menschen ausmacht.

Nicht nur zwölf Jahre nationalsozialistische Schreckensherrschaft und die furchtbaren Vertreibungsjahre danach.

Alle Höhen und Tiefen, Wunderbares und Schreckliches sind uns aus Jahrhunderten mitgegeben.

Das Elend von Flucht, Vertreibung und Umsiedlung, das Millionen von Menschenleben kostete und das Leben Unzähliger mit Schmerz, Verlust und Trauer überschattete, hat uns und viele Gesellschaften in Europa grundlegend verändert. Bis heute werden die Beziehungen zwischen den europäischen Völkern davon beeinflusst. Unsere Geschichte mahnt uns immer wieder aufs Neue, unsere Stimme aufrichtig und mutig zu erheben, wenn Menschen gewaltsam vertrieben werden und ihre Menschenwürde mit Füßen getreten wird. Der Verlust von Heimat, die Suche nach neuer Heimat, die bleibende Sehnsucht nach der alten oder auch die Zerrissenheit zwischen alter und neuer Heimat, sind prägend für uns und Europa.

Wer aber glaubt oder glauben machen will, dass die Vertreibung der Deutschen in der Mitte des 20. Jahrhunderts allein eine Sache der davon persönlich Betroffenen sei, der irrt fundamental und der ignoriert zweierlei:

Er übersieht, dass allein die geographische Lage des Wohnortes entschied, wer vertrieben wurde und eben nicht die Kategorien persönlicher Schuld oder Unschuld.

Er übersieht zudem, dass mit der Vertreibung ein kultureller Umbruch bislang ungeahnter Dimension eintrat. Ein Umbruch, der den Kern unserer deutschen Kultur dauerhaft tief berührt. Historische deutsche Kulturlandschaften sind weitgehend erloschen. Vieles an kulturellen Traditionen ist versunken oder überlebt nur museal. Anderes lebt als Kernbestand unserer Kultur weiter, ist aber seinem historischen Entstehungsort entrissen.

Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“ ist untrennbar mit Königsberg, das der Philosoph Zeit seines Lebens niemals verlassen hat, ebenso verhaftet wie Gerhart Hauptmanns „Weber“ mit Schlesien. Und Gustav Mahlers Sinfonien atmen seine böhmische Heimat. Die Werke und ihre Schöpfer bleiben unverzichtbar für uns Deutsche.

Darum geht die Vertreibung alle in Deutschland an. Sie ist ein elementarer Teil unserer gesamtdeutschen Identität und unseres kulturellen Erbes, das uns alle prägt.

Die Völker Europas leben gemeinsam auf dem Fundament des christlichen Abendlandes und seiner Aufklärung. In Baukunst, Musik, Dichtung, Wissenschaft und Forschung gab es über die Jahrhunderte hinweg ein beständiges, zumeist friedliches Geben und Nehmen. Dieser Austausch war und ist bereichernd und fruchtbar.

Wir müssen uns unserer europäischen Vergangenheit in all ihren Facetten gemeinsam stellen und in voller Kenntnis unsere europäische Zukunft daraus gestalten. Das fällt nicht allen leicht. Auch nicht in unseren Nachbarländern.

Aber daran führt kein Weg vorbei.

Es sind die deutschen Vertriebenen, die wie kaum jemand sonst den Weg in Richtung Osten suchen.

Sie sind die immer breiter werdende Brücke zur Verständigung.

Die Landsmannschaften des BdV pflegen seit vielen Jahren erst scheue und zunehmend gute und fruchtbare Kontakte in ihre Heimat und zumeist auch zu den Regierungen der Heimatregionen.

Wir brauchen in Europa das Miteinander und wollen das Gegeneinander der Völker überwinden. Dazu muss es gemeinsames Anliegen sein, den Schutt der Geschichte beiseite zu räumen und aus den Trümmern Neues zu bauen.

Die Vertriebenendebatten der letzten Jahre bis hin zum heutigen Tage sind auch Folge unserer im Jahre 2000 gegründeten Stiftung „ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN“ (ZgV).

Und sie sind Teil eines Klärungsprozesses, der immer noch nicht abgeschlossen ist. Wobei festzustellen ist, dass die Aggressionsstürme der verflossenen Jahre deutlich abgeflaut sind.

Damit wir in Deutschland zu uns selbst finden und damit Europa immer mehr zu einer Gemeinschaft werden kann, dürfen wir die Vergangenheit nicht vergessen und verdrängen. Dazu trägt das ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN bei. Und dazu soll auch der Franz-Werfel-Menschenrechtspreis beitragen.

Zukunft braucht Herkunft, auch eine konstruktive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Wir brauchen auf dem Weg in eine menschenwürdige und lebenswerte Zukunft notwendig Zeiten der Vergewisserung. Denn wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der ist anfällig für neue Grausamkeiten.

Und: Wir brauchen für eine fruchtbare lebensvolle und gute Zukunft die Wurzeln, aus denen sich unsere Identität speist.

Goethe riet uns:

„Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es um es zu besitzen.“

Ja, wir müssen uns des Erbes annehmen, es umfassend erwerben wollen. Nicht nur einzelne Teile als politisches Instrumentarium.

Renommierte, aber auch unbekannte Persönlichkeiten sind Träger unseres Franz-Werfel-Menschenrechtspreises.

Von György Konrad über Herta Müller, David Vondráček bis hin zu den jungen tschechischen Initiatoren des „Kreuzes der Versöhnung“ in Wekelsdorf.

Heute zeichnet unsere Stiftung erstmals einen deutschen Historiker aus. Einen Mann, der besondere Bedeutung für unsere Stiftung ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN hat.

Und das ist ihm vermutlich nicht einmal bewusst.

Als ich 1998 Präsidentin des BdV wurde, hatte ich schlaflose Nächte. Ich machte mir Gedanken, wie ich mit dieser Aufgabe umgehen sollte.

Es waren die Veröffentlichungen Karl Schlögels, die mir die Initialzündung gaben. Seine Gedanken waren für mich DER Wegweiser. Und daraus ist die Stiftung ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN entstanden.

Vielleicht verstehen Sie mich - selbst mit nur zwei Zitaten aus dem Werk Karl Schlögels:

„Wer Europa mit den Augen von Heimatvertriebenen betrachtet, sieht ein anderes Europa. Man könnte auch sagen: dem gehen die Augen auf.

Heimatverlust ist Verlust nicht nur von „Haus und Hof“, von Eigentum, von vertrauter Umgebung.

Es handelt sich um mehr.

Darüber zu sprechen, ist nicht einfach. Denn jenen, die den Verlust erlitten haben, muss man das nicht erklären. Sie wissen es. Und jenen, die nichts verloren haben, die „dort nichts verloren haben“, kann man kaum verständlich machen, was sie verloren haben.“

„Diese Geschichte geht nicht auf  in der Hitlerzeit und in dem, was sie damit gemacht hat, sondern es ist eine reiche und komplizierte Geschichte. Sie ist kein Randphänomen, sondern ein Hauptereignis der deutschen Geschichte.

Der verlorene deutsche Osten ist zu wichtig, um ihn den Vertriebenen allein zu überlassen, und ihre Schultern sind zu schwach, um ihn sich allein aufzuladen.“

Dieser letzte Satz hat manchen Vertriebenen geradezu erbost, weil er gründlich missverstanden wurde als ein Anlauf, den Vertreibungsopfern auch noch die Heimaterinnerung zu entwinden. Das Gegenteil aber lese ich heraus. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass das Geschehen in Mittel-Osteuropa die davon nicht direkt Betroffenen auch, oder gerade deshalb anzugehen hat und dass es deren Pflicht ist, sich an der mentalen Aneignung zu beteiligen.

Sehr geehrter, lieber Herr Professor Schlögel, Sie sind ein Gründungsvater dieser Stiftung - ohne es zu wissen!

Das aber hat für die Jury bei der Preiszuerkennung keine Rolle gespielt, denn auch die Jury erfährt erst jetzt davon.

Sehr geehrter Thomas Schmid, Sie haben jetzt das Wort, um unseren Preisträger zu würdigen.

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