Franz-Werfel-Menschenrechtspreis 2012

Thomas Schmid

Laudatio auf Karl Schlögel zur Verleihung des Franz-Werfel-Menschenrechtspreises 2012 Frankfurt am Main, 28. Oktober 2012, Paulskirche

Von Thomas Schmid

Liebe Frau Steinbach,
Sehr geehrter Herr Stadtkämmerer Becker,
sehr geehrter Herr Staatsminister Boddenberg,
lieber Karl Schlögel,
liebe Sonja Margolina,
liebe Frau Hriberski,
meine Damen und Herren,

unsere Zeiten sind, Sie wissen es alle, schnell und beweglich. Das fordert den Menschen Beweglichkeit, Flexibilität und die Fähigkeit zu schneller Anpassung an ebenso schnell wechselnde Anforderungen ab. Intellektuell und wissenschaftlich heißt das: Der Mensch muss viele Themen im Köcher haben, muss in vielen Theorien zu Hause sein, muss leichthin von der Literatur in die Innenpolitik, von dort nach Asien und davon wieder zur Psychologie springen können. Und so weiter und so fort. Meine Aufgabe ist es hier, den Historiker, Professor und Publizisten Karl Schlögel zu ehren, einen Zeitzeugen und Forscher, der genau dieses, die ungeheuer gesteigerte  Mobilität und den Druck zur Anpassung in seinen Schriften vielfach beschrieben hat. Das annus mirabilis 1989 – das Wunderjahr, in dem etwas, nämlich die Spaltung des europäischen Kontinents, zu Ende ging und etwas Neues begann, welches zugleich etwas Altes war und ist – spielt in vielen seiner Bücher und Aufsätze eine gar nicht hoch genug zu veranschlagende Bedeutung.

Das Jahr 1989 hat den Kontinent und seine Menschen durcheinandergeschüttelt. Und insbesondere denen, die zuvor jahrzehntelang dazu verurteilt waren, hinter dem Eisernen Vorhang zu leben, zwang die neue Zeit eine ungeheure Anpassungsleistung ab, zwang sie zu einem Leben ins oft bedrohliche Offene und nötigte sie, eine gewaltige Kraft des Improvisierens zu entwickeln, die Wohnorte und die Berufe zu wechseln. Karl Schlögel hat dieses Vermögen – ich möchte sagen: mäandernd besungen. Denn er ist auch ein Poet des neuen Europa und seiner Nomaden, die keine andere Wahl haben, als ein unstetes Leben zu führen.

Da das Leben aber bekanntlich voller Paradoxien ist, kommt es, dass Schlögel selbst zweifelsohne kein Exemplar dieses neuen Homo Europaeensis ist. Er ist nicht unstet, sondern sehr stet, sesshaft, kein Vagant, sehr treu gewissermaßen, und so ist er vor allem  sein ganzes wissenschaftliches und Autorenleben lang einem großen Thema treu geblieben: eben dem Osten Europas. Das verlangt nach einer Erklärung – die ich nicht geben kann und auch nicht geben will, denn ich halte den Menschen an sich für ein ziemlich unerforschliches Wesen. Ich kann aber mutmaßen. Dass der Osten sein Thema werden würde, ist ihm sicher nicht an der Wiege gesungen worden. Denn dort, wo er groß wurde, im Allgäu, wo es noch schwäbisch ist, ruht die westliche Welt ganz in sich, der Eiserne Vorhang war sehr weit weg. Nicht aber – hier kommen wir zu Schlögels Lebensthema – die Geschichte, die zum Eisernen Vorhang geführt hat. Sie kam in diese Provinz in Gestalt der Flüchtlinge, die eine andere Welt verkörperten, die durch ihr Anderssein die lokale Selbstbezogenheit aufbrachen und vielleicht auch transzendierten.

 Karl Schlögel hat das einmal im Rückblick so formuliert (ich zitiere das auch, um deutlich zu machen, dass Karl Schlögel nicht nur Wissenschaftler, sondern auch ein Erzähler ist): „Ich komme nicht aus einer Vertriebenenfamilie, ich bin kein Vertriebener, meine Eltern haben keine Heimat im Osten verloren. In einer gewissen Weise kann ich nicht mitreden. In einer anderen aber doch. Die Welt, in der ich groß geworden bin, ist ohne Flüchtlinge nicht denkbar, ich würde sogar sagen, ich verdanke ihnen sehr viel. Sie waren die Fremden in dem schwäbischen Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, sie waren die Interessanten, die Inspirierenden, sie verkörperten die weite Welt und den Bezug nach draußen, sie waren  mobiler, moderner, anregender. Für mich jedenfalls waren sie die Brücke nach draußen, in den europäischen Osten: nach Breslau, Karlsbad, Znaim, Siebenbürgen.“ Diese Wahrnehmung ist so plausibel wie überraschend.

Die Flüchtlinge waren, wie Sie wissen, im Westen Deutschlands in den schweren Anfangsjahren der neuen Republik keineswegs immer willkommen, nicht als Bereicherung, sondern eher als Störung, als Zumutung wurden sie wahrgenommen. Längst haben Historiker und Wirtschaftswissenschaftler gezeigt, dass die Flüchtlinge tatsächlich wahre Entwicklungshelfer gewesen waren - ohne sie hätte die Bundesrepublik nicht diesen ungeheuren Aufschwung hinlegen können, der dann als Wirtschaftswunder sprichwörtlich geworden ist). Sie waren es ganz wesentlich, die zum Beispiel Bayern zu einem wirtschaftlich modernen Land gemacht haben. Man hat das mit dem doppelten und dreifachen Arbeitseifer zu erklären versucht, den sie an den Tag legen mussten, um als Entwurzelte in einer neuen Welt wieder Fuß fassen zu können. Dieser Eifer passte ja auch gut zu dem Bild, das man sich besonders in linken und liberalen Kreisen von diesen Gestalten aus dem deutschen Osten gemacht hatte: altertümlich sprechende und sich kleidende Hinterwäldler, die eigensinnig an ihrer aus der Zeit gefallenen Folklore, an ihren Erinnerungen und an ihrer östlichen Lebensweise festhielten.

Der junge Karl Schlögel hatte da womöglich früh schon eine andere Witterung aufgenommen. Ich zitiere noch einmal aus dem genannten Aufsatz: Die Flüchtlinge „verkörperten die weite Welt und den Bezug nach draußen, sie waren mobiler, moderner, anregender“. Flüchtlinge wurden (und werden in den Wanderungsbewegungen von heute wieder) als Bedrohung wahrgenommen – und als defiziente, als Mängelwesen, denen etwas fehlt und die für etwas Altes stehen. Es gehört zu den Tugenden des widerborstigen und auf seine Weise sturen Karl Schlögel, dass er hinter diesem Gemälde (das ja nicht einfach nur aus der Luft gegriffen ist) eine andere Wirklichkeit geahnt, herausgearbeitet und herausgelöst hat, wie eine zweite, tiefer liegende Schicht eines Gemäldes. Seine Antennen waren, muss man vermuten, früh schon ostwärts ausgerichtet.

Etwas anderes wird wohl hinzukommen: die Politik, das politische Engagement. Auch diesmal verlief die Geschichte paradox. Wie bei vielen seiner Generation (Karl Schlögel ist Jahrgang 1948) war es ein linkes Engagement, dazu ein ziemlich sektiererisches. Es hat wohl eine Zeit gegeben, in der Schlögel sich einen Kommunisten genannt hätte. Er kam dann schnell wieder davon ab, die Wirklichkeit überzeugte ihn. Weder gehörte er danach zu jenen, die die wilden Jahre nach 1968 als ihre intensivsten verklärten und erinnerungspolitisch einschreinten. Noch aber – und das ist hier wichtiger – gehörte er zu jenen anderen, die sich in alle Winde zerstreuten, die das, was sie ihre „Jugendtorheit“ nannten, dem Selbstvergessen anheimgaben. Nein, Schlögel hatte es ernst gemeint, und er meinte es auch weiter ernst – und wieder: Sturheit ist ein starker, ein guter starker Zug bei ihm.

Er hat hingesehen. Die Sowjetunion war das schreckliche Experimentier- und Exerzierfeld des Kommunismus gewesen und war es in den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als der Autor Schlögel hervortrat, noch immer. Der Kommunismus hat den Osten Europas gequält und geschunden – und im Westen Europas hat das im Laufe der für diesen Westen glücklichen Jahrzehnte allmählich nicht mehr allzu viele Menschen betrübt, beschäftigt, geschmerzt. Berlin 1953, Budapest 1956, Prag 1968, Polen 1981 – um nur einige Beispiele zu nennen: Die spontanen, zum Teil verzweifelten Versuche vieler Ost- und Mitteleuropäer, die kommunistische Fessel zu lockern oder ganz zu sprengen, wurden im Westen zwar irgendwie anerkannt – es fehlte aber entschieden an Empathie. Es waren, so das Gefühl im Westen, nicht unsere Leute, die da gegen Panzer und Zensur und Mangel anrannten. Wir haben sie allein gelassen – auch mit einer Ostpolitik, die fast nur auf die Diplomatie setzte und den Faktor Volk aus dem Auge verloren hatte. Das muss den skeptisch gewordenen Ex-Kommu-nisten Schlögel, der ein feines Organ für die filigranen Risse im Eis des Ost-West-Blocks hatte, empört haben. Jetzt erst recht der Osten!

Vielleicht hatte dieses Interesse Karl Schlögels auch etwas Romantisches, vielleicht war eine Spur von Narodniki-Geist beigemengt. Es war vor allem aber wohl ein starkes Gefühl für die schreiende Ungerechtigkeit, die hinter dem westlichen Desinteresse für Ost- und Mitteleuropa stand, die Schlögel dazu bewegte, seine amour fou für den Osten nicht erkalten zu lassen. Er hat einfach nicht mehr locker gelassen. Früher als andere hat er, der immer wieder ostwärts reiste, erkannt, dass das Gebäude der sowjetgestürzten Macht morsch war und dass sich da ein ebenso glücklicher wie grundstürzender Umbruchprozess anbahnte, in dem nicht die Großen, sondern die unzähligen kleinen Leute Melodie und Takt vorgaben. Wie ein rasender Reporter hat Schlögel die Brutstätten der Dissidenz, der volkstümlichen Erhebung, des populären „Nein“ besucht, ausgeleuchtet und – nein, nicht verklärt, wohl aber als Laboratorien einer besseren, zumindest reichhaltigeren Zukunft beschrieben, gedeutet. Dabei nutze ihm sein waches Organ für das Latente, das noch nicht sichtbar, aber schon im Schwange ist.

Allein die Titel seiner Bücher und Aufsätze machen deutlich, wie dieser Autor voller Neugier durch Europa, vor allem durch dessen östlichen Teil, geschweift ist. Schon 1984 trägt ein Buch den Titel „Moskau lesen“. Oder – 1991, kurz nach der Öffnung des Kontinents – ein Buch mit dem schönen Titel „Das Wunder von Nishnij oder Die Rückkehr der Städte“; darin, um nur ein paar Kapitel zu nennen: Kreuzberg – porta orientis, Wilna – Horror einer schönen Stadt, Lemberg – Hauptstadt der europäischen Provinz, Kasan – Russlands Fenster nach Asien. Und nicht zuletzt das titelgebende „Wunder von Nishnij“, das mit einer märchenhaften Erzählung von der einst weltberühmten Messestadt Nishnij Nowgorod beginnt, die wir alle aus den Augen verloren hatten. Dann, wie eine Aufforderung und zugleich programmatisch: „Go East oder Die zweite Entdeckung des Ostens“.

Und nun im Schnelldurchlauf weitere Bücher des Autors: „Promenade in Jalta und andere Städtebilder“ (2001) – wenn man will, die Wiederentdeckung einer Städtevielfalt, von der wir kaum noch etwas wussten; „Petersburg. Das Laboratorium der Moderne 1909-1921“ (2002) – ein Versuch, eine faszinierende geistige Welt, die dann erstickt wurde, wieder freizulegen; „Kartenlesen oder Die Wiederkehr des Raumes“ (2003) – das kühne Bemühen, die durch die NS-Eroberungs- und Siedlungspolitik so nachhaltig diskreditierte Geopolitik wieder anzuerkennen und sie den Nazis gewissermaßen zu entreißen: die Wiederentdeckung, dass der Raum zählt;, „Planet der Nomaden“ (2006) – ein Buch, das die Nicht-Sesshaftigkeit zum Thema hat und zeigt, dass Migration und Flucht das 20. Jahrhundert viel tiefer geprägt haben, als wir oft annehmen; „Das russische Berlin: Ostbahnhof Europas“ (2007), aber auch: „Terror und Traum: Moskau 1937“ (2008) – eine Reise zurück in das Herz der Finsternis, in das Moskau der großen Schauprozesse, in denen der Traum von der Befreiung in schier grenzenlosen Terror mündete.

Sie sehen: Das Themenfeld Karl Schlögels ist riesig groß – es reicht mindestens vom ehemaligen Polenmarkt auf einer Berliner Brache unweit des Postdamer Platzes bis weit ins asiatische Russland hinein. Und doch gibt es bei aller Vielfalt ein einigendes, verbindendes Band. Denn immer geht es um die Rückkehr des Ostens. Karl Schlögel ist, wenn man will, ein Botschafter, der uns von ungeheuerlichen Umbruchprozessen erzählt, er ist ein Dolmetscher, der uns erklärt, was da geschieht, ein analysierender Poet, der sich einen Reim auf scheinbar Disparates macht und der nicht müde wird, uns mit melancholisch-neugieriger Stimme die Einzelheiten zu präsentieren – Ding für Ding, Stadt für Stadt, Markt für Markt, Pfad für Pfad.

Autoren wie Schlögel, die einmal eine Wende vollzogen und sich von einem Glauben, von einer Weltanschauung abgewandt haben (auch ich gehöre zu dieser Spezies), werden nicht selten zu geistigen Nomaden, die wie getrieben von Thema zu Thema und oft auch von Meinung zu Meinung springen. Das führt dann dazu, dass das, was sie schreiben, nur eine kurze Haltbarkeit haben kann; was sie vor zwei Jahren schrieben, wirkt heute schon veraltet, unmöglich, auch peinlich. Nicht so bei Schlögel, dem treuen Ost-Arbeiter. Zur Vorbereitung dieser Laudatio habe ich viele Texte Karl Schlögels gelesen und wieder gelesen – neuere, aber auch welche, die zehn, zwanzig, dreißig Jahre alt sind. Gewiss, mancher Text hat, wie das Buch, in dem er steht, ein wenig Patina angesetzt – in aller Regel lesen sie sich aber so frisch wie am ersten Tag. Es gibt eigentlich nichts, was der Autor zurückzunehmen hätte, nichts, wofür er sich zu schämen hätte, nichts, worin ihn die wirkliche Geschichte ins Unrecht gesetzt und dementiert hätte.

Und das gilt erstaunlicherweise auch für die Texte, die er vor dem Wunderjahr 1989 geschrieben hat. In den 80er-Jahren hielten Egon Bahr und viele andere die Teilung Deutschlands und die Teilung des Kontinents für schicksalhaft und sogar für gerecht, und sie waren in dieser Haltung so entschieden und so festgefahren, dass sie – wie im Grunde der gesamte Westen – die Zeichen an der Wand nicht sahen, das schon laut vernehmbare Knirschen im sowjetischen Gebälk nicht hörten. Es mag ein bisschen pathetisch klingen, aber es war schon so: Jahre bevor das sowjetische Reich zerfiel und die Grenzen sich öffneten, ahnte, spürte und beschwor Karl Schlögel das welthistorische Ereignis, das da im Kommen war. Woher er das wusste? Schwer zu sagen. Aber es muss wohl damit zu tun haben, dass er hinsah, dass er die isolierten Dissidenten ebenso ernst nahm wie die populäre Verweigerung, den schleichenden inneren Exodus der ost- und mitteleuropäischen Massen.

Als das Wunder des Jahres 1989 geschehen war, glaubten viele, nun habe der Westen wohl endgültig gesiegt. Das eine Modell, so meinte man, war historisch krachend gescheitert, das andere habe sich durchgesetzt und würde nun ostwärts wandern und Mittel- wie Osteuropa eingemeinden. Davon hat Karl Schlögel nie etwas gehalten. Nicht weil er – wie so mancher Dissident, wie so manche Bürgerrechtlerin – an irgendwelche dritten Wege zwischen Kapitalismus und Sozialismus geglaubt hätte. Nein, ihm war schon klar, dass der Sozialismus zu recht aus dem politischen Angebot verschwunden ist und dass Markt und Kapitalismus zu Recht den Wettstreit der Systeme gewonnen haben. Nur war und ist er nicht ohne Weiteres davon überzeugt, dass der so erfolgsverwöhnte Westen die besseren Qualifikationen mitbringt, um unsere heutige schwierige Zeit – für die exemplarisch die Euro-Krise steht – gut zu bestehen.

Einer populären Metapher zufolge war der Osten Europas mehrere Jahrzehnte lang unter dem Eis des Kommunismus eingefroren. Wenn es schmilzt, so die Vermutung, würde eine alte Geschichte fortgesetzt werden; und jene, die nun vom Eise befreit sind, kämen auch mental aus einer fernen Vergangenheit. Der Westen dagegen: quicklebendig, hochmodern und sehr beweglich. Karl Schlögel hat eine andere Theorie vom Eis des Kalten Krieges. Er spricht von einem „festgefrorenen Frieden“ – einem Frieden, der dem Osten geschadet, dem Westen aber genutzt hat. Er hat den Westen aber auch in gewisser Weise träge gemacht. Der ungeheure Nachkriegsboom – historisch eine einmalige Ausnahme – schuf eine geordnete Welt ohne große existenzielle Risiken für den Einzelnen, eine berechenbare, eine verlässliche Welt. Um in ihr zu überleben, musste man nicht ständig alle Sinne aktivieren, musste man nicht immerzu kämpfen. Ein bisschen Ehrgeiz und viel Routine reichten.

Ganz anders der Osten: Hier war nichts berechenbar, nichts vorhersehbar, hier gab es keine kausale Verbindung zwischen Leistung und Erfolg, zwischen Arbeit und Ertrag, hier fehlte ständig dieses und jenes, hier waren ohn’ Unterlass Löcher zu stopfen. Alles war behelfsmäßig, man musste sich durchmogeln, sich arrangieren, man musste improvisieren und stets damit rechnen, vor dem Nichts zu stehen. Und als Schluss war mit dem Eisernen Vorhang, wurde es nicht – wie so viele hofften – umstandslos besser, im Gegenteil, es wurde vielleicht nicht schlechter, aber doch erheblich schwieriger. Ganze Industrien brachen weg, Arbeitsplätze gingen verloren, Berufsqualifikationen wurden entwertet. Aus Sesshaften wurden Wanderarbeiter, Familien brachen auseinander. Sicher war nur die Unsicherheit.

Das war eine Last und eine Qual – aber, so Karl Schlögel, auch eine gute Schule. Wer durch sie hindurch ging, der lernte viel. Er musste improvisieren, musste stoisch mit Unsicherheit zu leben lernen, musste immer wieder neu Anlauf nehmen, musste beweglich werden, der Heimat und den Seinen ade sagen, er wurde gewissermaßen in die Multikulturalität geworfen. Er musste lernen, dass er sich auf die neuen Institutionen zum Teil noch weniger verlassen konnte als auf die totalitären alten. Was Institutionen im Westen auszeichnet, ging ihnen hier fast vollständig ab: Sie entlasteten nicht – in Moskau so wenig wie in Kiew und Lemberg. Mit der Euro-Krise ist deutlich geworden, dass auch im Westen die Zeiten härter und vermutlich ärmer werden. Jetzt sind wir es, die die Kunst des muddling through, des Durchwurstelns, des Lebens in relativer Unordnung werden lernen müssen. Der Osten ist jetzt nicht mehr rot, aber in mancher Hinsicht weiter. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Beschreibung, die Karl Schlögel gegeben hat, gänzlich stimmig ist – ich halte dann doch große Stücke auf die Regenerationskraft der alten westlichen Welt. Aber zweifellos hat Schlögel darin recht, dass die osteuropäische Erfahrung eine wertvolle ist, die wir nicht missachten sollten.

In Karl Schlögels Sicht, dann erscheint das 20. Jahrhundert und erscheint auch dieses frisch angebrochene Jahrhundert als ein Jahrhundert der großen Unruhe: der Wanderungen, der Migration, der Vertreibung, der Flucht, des ewig Provisorischen. Es war eine Zeit gewaltsamer Ortsveränderungen. Schriebe man deren Geschichte, sagt Schlögel, dann würde es sich „rasch herausstellen, dass fast jede Nation in Europa ihren Tribut entrichtet hat, und dass viele dabei waren, den ungeheuren Wirbel zu entfachen, in dem die Menschenlandschaft Europas um und um gepflügt worden ist“. Es kommen in dieser Geschichte des Kontinents auch Glück und Erfolg vor, gar nicht einmal so knapp. Es kommt darin aber auch unendlich viel Leid vor. Es hat alle getroffen: Polen, Russen, Tschechen, Deutsche, es hat Juden vor allem, aber auch Christen und Muslime getroffen. Jede Gruppe hat ihr Leid im Herzen eingeschlossen, jede Gruppe hat sich wieder und wieder die Geschichte vom eigenen Leiden erzählt. Obwohl doch das alle Verbindende eigentlich gar nicht zu übersehen ist, kam es – und die Ursache dafür ist sehr schwer zu finden – zur Segmentierung der Erfahrung von Leid, zu parallelen Opfererzählungen, die sich nicht einmal in der Unendlichkeit trafen. Polen, die unter der deutschen Besatzung zu leiden hatten, wollten oft nicht sehen, dass auch Deutschen Unrecht zugefügt wurde, mit der Vertreibung. Deutsche Vertriebene wollten oft nicht wahrhaben, dass ihr Leid nicht das einzige war, und sie sahen in den Polen Vertreiber, nicht Opfer deutscher Gewaltherrschaft. Schlögel drückte das mit der Wendung aus, die Vertriebenen wachten über ihr Vertriebensein wie über ein Monopol.

Er kann sich diese Verschlossenheit in sich selbst der Vertriebenen und oft auch ihrer Kinder und weiteren Nachkommen gut erklären: So etwas stellt vielleicht eine Art von Heimatersatz her. Aber Karl Schlögel kann sich damit zu Recht nicht abfinden. Er sagt: „Obwohl fast jeder Mittel- und Osteuropäer mit Umsiedlung und Vertreibung zu tun bekam, wird sie nicht als europäische Kollektiverfahrung wahrgenommen, sondern als spezifische Erfahrung einer Nation, einer Volksgruppe oder Landsmannschaft – fast immer nur der eigenen. Diese Wahrnehmung bleibt zurück hinter der Europäizität der Zerstörungsvorgänge im 20. Jahrhundert.“ Diese gesamteuropäische Erfahrung soll, sie muss wahrgenommen werden, nur das führt weiter und zusammen, da ist Karl Schlögel unerbittlich und kritisiert jene, die sich in ihr Leid oder das ihrer Vorfahren einschließen.

Es muss aber auch, sagt er, möglich sein, den entschwundenen Osten Europas wahrzunehmen, zu würdigen und dem Phantomschmerz des Verlustes nicht auszuweichen. Der verlorene deutsche Osten hat, wenn man so will, ein Recht darauf, nicht in Vergessenheit zu geraten und in seiner Fülle wenn nicht in Erinnerung, so aber doch im Gedenken gehalten zu werden. Nicht nur in Büchern und Ausstellungen, sondern auch in den Gefühlen. Ich füge hier eine ganz kleine persönliche Erfahrung an, die mich zuversichtlich stimmt. Im vergangenen Jahr konnte ich dabei sein, als dem Schriftsteller Siegfried Lenz in seiner masurischen Heimatstadt Lyck, sie heißt heute Elk, die Ehrenbürgerwürde verliehen wurde. Bei einer Erkundungsfahrt durch die Stadt fiel mir ein mehr als hundert Jahre alter Wasserturm auf, und ich erinnerte mich, dass der Turm in dem Roman „Heimatkunde“ von Siegfried Lenz eine Rolle spielt. Als ich ihn mir auch deswegen und, weil er so schön ist, ansehen wollte, stellte ich fest, dass der Turm sowie ein benachbarter Anbau Sitz der verbliebenen deutschstämmigen Minderheit in Ermland und Masuren ist. In den vier Etagen des lange schon stillgelegten Wasserturms: eine rührende Zusammenstellung von Erinnerungsstücken aus der Geschichte der Deutschen in Ermland und Masuren – viele Foto, viele Bücher, Butterschleudern, Teller, Schüsseln, Gabeln, Messer, Löffel, Gesticktes und so weiter. Und im Anbau trafen sich die Deutschstämmigen – alte Leute zumeist, die viel besser Polnisch als Deutsch sprechen – und erfreuten sich an alten deutschen Rezepten. Es waren traurige, fröhliche, allesamt friedliche Leute, denen die Geschichte einen Schlag versetzt hat – nicht nur, weil sie über Jahrzehnte hinweg jenseits der eigenen vier Wände nicht Deutsch sprechen durften. Einer von ihnen stellte sich mir als Rentner aus Rügen vor, 1945 vertrieben. Nun kommt er, erzählte er, jedes Jahr für drei, vier Monate hierher, um zu helfen, um an den Stätten seiner Jungend zu sein und mit den wenigen verbliebenen Deutschstämmigen so oft als möglich bei scharfen Alkoholika zu feiern. Wie schön, dass so etwas heute normal ist.

Ich bin mir ganz im Klaren darüber, hier nur einige Facetten des engagierten, aber auch zurückhaltenden, umsichtigen Intellektuellen Karl Schlögel umrissen zu haben. Schlögel ist ein melancholischer Optimist, ein nicht verbitterter Skeptiker. Er will, dass kein Leid vergessen wird, und er will genauso, dass keine Chance auf Lernen, auf neue Erfahrungen, ja auch auf Versöhnung ungenutzt bleibt. Er hält die Vergangenheit und ihre Schrecken wie ihre Schönheiten gegenwärtig und er nimmt neugierig die Laufspuren in Augenschein, auf denen die Völker Europas wandern und an einer ungeahnten Zukunft bauen. Solche kluge Menschen, solche neugierigen wie emphatischen Wanderer zwischen den Welten, solche genauen Beobachter, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sorgsam aneinander binden – solche Geister können wir gut gebrauchen.

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