Franz-Werfel-Menschenrechtspreis 2012

Karl Schlögel

Dankrede zur Verleihung des Franz-Werfel-Menschenrechtspreises des Zentrum gegen Vertreibungen in der Paulskirche in Frankfurt am Main am 28.0ktober 2012

Sehr verehrte Frau Steinbach,
sehr geehrter Herr Becker,
lieber verehrter Thomas Schmid,
verehrte Mitglieder der Jury,
meine Damen und Herren,

Veranstaltungen, selbst so festliche wie diese, und an einem so bedeutenden Ort wie der Paulskirche, werden in der Regel nicht entlang von Jahrhundertdaten, sondern nach Terminkalender festgelegt. Aber dass man sich fast automatisch einklinkt in eine Kette, der wir kaum entgehen können, ist doch wieder bezeichnend. In diesen Tagen ist es genau 100 Jahre her, dass ein Krieg begann, der uns mitten hineinführt in die Tragödien des 20. Jahrhunderts, in den Sturm der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, Umsiedlungen und des Völkermordes, ein Sturm, der am Ende auch die Deutschen selbst erfasst. Im Oktober 1912 begann der erste Balkankrieg, der - beendet im Frieden von Konstantinopel und der Konvention von Adrianopel im Jahre 1913 - den ersten organisierten Bevölkerungsaustausch der modernen Geschichte mit sich brachte, mithin also die Austreibung der Muslime aus den eroberten Gebieten des niedergehenden Osmanischen Reiches und die Flucht hunderttausender im Laufe der Kriegshandlungen. Eine Kette war damit in Gang gesetzt, die in weiteren Kriegen in der Region sich fortsetzte, die hineinlief in die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts", die Entfaltung dessen, was später Vorläufer des totalen Krieges heißen wird mit allem, was dazu gehört. Dieser Krieg führt uns auch hinein in den Beginn der Tragödie, der Franz Werfel, der Namensgeber des heute vergebenen Preises, wohl sein ergreifendstes und erschütterndstes Buch gewidmet hat: "Die vierzig Tage des Musa Dagh", dessen Handlung im Übrigen in einer Gegend spielt, die nicht allzu weit entfernt ist von einer Region, in der auch in diesem Augenblick Hunderttausende auf der Flucht sind.

Man möchte nach der Lektüre von Franz Werfels "Die 40 Tage des Musa Dagh" am liebsten verstummen. Und man schreckt zurück vor dem Gewicht, das in dem Wort "Menschenrechts preis" steckt - denn ist es nicht so, dass man im Einsatz für die Bewahrung der Menschenrechte etwas riskiert, etwas durchgestanden, eine solche Ehrung verdient haben muss? Gemessen daran wird mein Dank nur als bescheiden bezeichnet werden können, auch wenn er von Herzen kommt.

Ich danke Ihnen, Frau Steinbach, für Ihre anerkennenden Worte, besonders aber für die Großzügigkeit, mit der Sie jemanden auszeichnen, der Ihnen in dem zentralen Anliegen - der Erinnerung an Flucht und Vertreibung der Deutschen und der Errichtung eines entsprechenden Dokumentationszentrums - immer nahestand, in manchem Punkt aber auch nicht. Ich danke den Mitgliedern der Jury, dass sie mir den Preis zuerkannt haben, das ist Schwerarbeit, wie ich aus eigener Erfahrung weiß. Und ich danke Thomas Schmid dafür, dass er sich in seiner Laudatio so intensiv mit meiner Arbeit auseinandergesetzt hat, obwohl er doch, wie wir alle wissen, überaus beschäftigt ist.

Ja, es ist so, dass ich nun schon einen großen Teil meiner Lebenszeit dem Schicksal von Flüchtlingen, Vertriebenen, Um- und Ausgesiedelten, Staatenlosen und Heimatlosen, gewidmet habe - nicht nur der Deutschen, wenn ich an die russischen Emigranten nach 1917 oder an die in der Stalinzeit deportierten sogenannten Kulaken denke, oder an die in alle Winde zerstreuten Wolgadeutschen, denen ich in Zügen oder auf Flughäfen begegnet bin, als ich in der späten Sowjetunion unterwegs war.

Das war kein Vorsatz und kein Plan, schon gar kein Forschungsplan, auch wenn ich Forschungsprojekte dazu angestoßen und dazu publiziert habe. Wie meistens entspringen die großen Fragen, die einen ein Leben lang in Atem und in Bewegung halten, nicht einer abstrakten Forschungslogik oder akademischen Diskursen, wie wichtig diese auch sein mögen, sondern sie sind einem durch das Leben und die Erfahrung selbst nahegebracht, fast auferlegt, zwingend. Man neigt in späteren Jahren dazu, sich die eigene Biographie zurechtzulegen, vielleicht sogar zu stilisieren, man will sich einen Reim machen darauf, wie alles gekommen ist.

Mein Interesse an den Flüchtlingen und Vertriebenen - vom Buch "Die Mitte liegt ostwärts. Die Deutschen, der verlorene Osten und Mitteleuropa" bis zum "Planeten der Nomaden" - ist gleichsam uralt. Ich komme nicht aus einer Vertriebenen-Familie, aber ich bin aufgewachsen unter einem Dach mit den Kindern der Vertriebenenfamilien, die es nach dem Krieg ins Allgäu - seit den Bauernkriegen vermutlich die geschichtsfernste Region Deutschlands - verschlagen hatte und die auf unserem Hof einquartiert waren. Sie waren aus dem Egerland, aus dem mährischen Znajm, aus Breslau gekommen. Ich bewundere im Nachhinein meine Mutter, wie sie das alles geschafft hat. Ich weiß aus späteren Erzählungen und vor allem aus den noch späteren historischen Analysen, dass die Neuankömmlinge, die an den Bahnstationen einfach ab- oder ausgesetzt wurden, nicht überall willkommen waren, und dass es Diskriminierungen und Demütigungen zuhauf gab: auf welche Schulbank man in der Volksschule gesetzt wurde, in welchen Betstuhl man in der Kirche durfte, wer zum sonntäglichen Frühschoppen oder in den Gemeinderat durfte. Und doch habe ich trotz allem, was ich über die "Kalte Heimat" gelesen habe, eine andere Erinnerung: die Flüchtlinge, die aus dem Osten in dieses schwäbische Dorf gekommen waren, waren Fremde, die einen anderen Dialekt, eine andere Sprache sprachen, die etwas anderes und meist mehr wussten als die Einheimischen. Die Frauen taten etwas, was man bis dahin nicht gesehen hatte: sie lackierten sich ihre Fingernägel, manche rauchten sogar. Diese Fremden waren die wirklich interessanten Leute im Dorf und es war schade, dass sie wegzogen, nachdem sie in der Stadt eine Arbeit gefunden hatten, die ihrem Können, ihrer Qualifikation entsprach. Ich glaube, ich erinnere mich an jeden von ihnen: an den Beruf, an seine Geschichte, an das Musikinstrument, das einer spielte. Man hat das später als demographische Revolution ohne Beispiel bezeichnet, die die alten Verhältnisse aufgebrochen und die stillen, rückständigen Landstriche in die Welt des Wirtschaftswunders katapultiert hat. Ich, und nicht nur ich, verdanke diesen Neuankömmlingen viel, unter anderem mein Interesse für die östliche Welt. Es kamen noch einige andere Momente hinzu, aber dass ich als Gymnasiast meine erste größere Reise ins Ausland in die Tschechoslowakei unternahm, hatte auch damit zu tun. Ich sah sehr früh Eger, Marienbad, Budweis, Leitmeritz, Pilsen, Krumlau, Prag und ich bekam für immer eine Vorstellung davon, dass es jenseits der Bundesrepublik noch etwas ganz Anderes gab: die damals ganz in Russ-schwarz daliegende alte Hauptstadt Mitteleuropas, die Stadt Kafkas, und in nächster Nähe Terezin/Theresienstadt. Der Krieg war fast 20 Jahre zu Ende, aber die Städte und Dörfer in den Grenzgebieten der Tschechoslowakei sahen immer noch aus, als wären sie gerade erst von ihren Bewohnern verlassen worden: leere Gehöfte, verlassene Gasthöfe, eingestürzte Dächer, verödete Marktplätze, Innenstädte, denen die einstigen Einwohner abhanden gekommen waren. Kriegsgelände, Nachkriegsgelände, Vertreibungsgelände. Was immer an späteren Eindrücken und Erfahrungen hinzu kam - Reisen in andere Regionen des mittleren und östlichen Europa - es war fast immer die Begegnung mit leergeräumten Zonen, über die zuvor eine andere Gewalt hinweggegangen war, oder Brachen, denen man ansah, dass sie eben erst wieder bebaut worden waren. Und fast immer stockte einem der Atem. Es war das Gefühl eines unermesslich großen Verlustes, von dem zu sprechen, sobald man zurückgekehrt war, sinnlos erschien: dort war der Blick westwärts gerichtet, und alles was zurückgelassen war, schien rückwärtsgewandt, gestrig, ewiggestrig, wenn nicht reaktionär. Namen, die keiner mehr nennt, bald Namen, die keiner mehr kannte. Die Erfolgsgeschichte Nachkriegsdeutschlands - hat die Verlustgeschichte überdeckt. Die Deutschen waren aus dem Zusammenhang herausgefallen, in dem sie über Generationen gelebt hatten, ihnen war auf dem Weg, westlich und weltläufig zu werden, die Verbindung zum mittleren und östlichen Europa weitgehend abhanden gekommen, oder sie waren wie im Fall der DDR unfreiwilliger Teil des östlichen Blocks. Eine oft übersehene Selbstprovinzialisierung als Preis für den Zugang zur neuen Welt. Es schien sogar eine gewisse Logik darin zu walten, dass die Ungeheuerlichkeit der deutschen Verbrechen im Osten Europas am Ende auf die Deutschen selber zurückschlug. Ganze Landstriche, Städte, eine jahrhundertelange Geschichte, die Arbeit von vielen, vielen Generationen - aus dem Horizont verschwunden, gelöscht. Es grenzt an ein Wunder, wie eine Kultur, eine Gesellschaft so etwas aushielt und verkraftete ohne die Balance zu verlieren. Und es grenzt an ein Wunder, dass die Verarbeitung eines solchen Verlustes, irgendwie gelungen ist - allen Versuchungen, die Fragen von Grenzen und Territorien doch offen zu halten, zum Trotz. Es ist klar, dass den Mehrheitsdeutschen dieser Verlust nicht so naheging, wie jenen, die ihn selbst, persönlich, unmittelbar erfahren hatten. Ich meine damit nicht nur Verlust von „Haus und Hof“, sondern das, was man im weitesten und innigsten Sinn Heimat nennt. Wie soll man auch jemandem, die nie dort gewesen ist, etwas von der einst glänzenden Stadt Königsberg - der Stadt Kants und Hannah Arendts - erzählen oder von dem weiten Himmel und den Wolkenbildungen in Ostpreußen. Wie soll jemand, der nie dort gewesen ist, etwas vom Zauber Schlesiens, der Weite der Oderebene oder der Landschaft des Riesengebirges ahnen. Je länger, je mehr blieben die Menschen, die mit diesen Bildern von der alten in eine neue Heimat gekommen waren, für sich und allein - mit ihren Erinnerungen und Familiengeschichten, über die sie, wenn überhaupt - in der DDR war dies von Anfang höchstens im Geheimen möglich - nur zuhause oder auf den jährlichen Treffen der Landsmannschaften sprechen konnten.

Der Weg, hinüber auf die andere Seite der Mauer, die durch Europa ging, führte für mich und für viele meiner Generation, über die Anerkennung dessen, was geschehen war. Eine Wiederbegegnung mit den Völkern des östlichen Europa war für mich, ohne die Anerkennung der Nachkriegsordnung nicht denkbar, so ungeheuerlich, zunächst auch ganz undenkbar diese - für alle Parteien, ja: für alle Parteien - war. Aber es war letztlich auf diesem Wege, dass sich die Türen öffneten und es ist kein Zufall, dass es zuerst Kirchenleute waren, die ihn gingen. Aber wie schwer dies gewesen sein muss, ermesse ich daran, dass selbst jemand wie Marion Gräfin Dönhof, eine Wegbereiterin der Aussöhnung mit Polen es nicht übers Herz brachte, 1970 in Warschau dabei zu sein, als förmlich und vor aller Welt die Nachkriegsgrenzen anerkannt und der Verlust auch ihrer Heimat für immer ratifiziert wurde.

Es war in diesen Jahren, dass sich irgendwie die Wege teilten, sie auseinanderliefen, eine innere Abkapselung und Isolierung um sich griff, sich festfraß, an der wohl beide Seiten ihren Anteil hatten. Der Kalte Krieg brauchte klare Fronten, ein Sowohl als auch war ihm verdächtig. Auch der Kalte Krieg forderte seine Opfer. Die Anliegen der Vertriebenen erschienen als überholt, sie erschienen als Störenfriede auf dem Weg zum Ausgleich. Aber auch jene, die die Tür zu einer neuen Ostpolitik aufstießen, wurden nicht selten als Verräter angegriffen, obwohl sie nichts verraten, auf nichts verzichtet hatten, was nicht schon verspielt worden war. Es sind jene Jahre, in denen man sich nur noch widerwillig und zunehmend gleichgültig mit den Anliegen der Landsmannschaften auseinandersetzt, wenn überhaupt. Und es entwickelt sich das, was, Erika Steinbach und Peter Glotz immer wieder und zu recht Kälte und mangelnde Empathie genannt hatten, wenn es um die leidvolle Erfahrung der Heimatvertriebenen ging. An den Folgen dieser inneren Entfremdung und Verfeindung, den mentalen Spätfolgen des kalten Krieges und der mit ihr verbundenen Lagerbildung, laborieren wir bis heute. Nicht anders kann man sich die Querelen, die Verdächtigungen, die Auseinandersetzungen darum, wie der Komplex der deutschen Vertreibungserfahrung in unsere Kultur integriert werden soll, erklären. Viele dieser Auseinandersetzungen haben eher etwas mit dem Betrieb der Erlebnis- und Erregungsgesellschaft zu tun als mit der Sache selber. Es ist doch eine Selbstverständlichkeit, dass die Vertreibung der Deutschen im europäischen Kontext zu sehen ist, und nicht borniert national. Es ist doch eine Selbstverständlichkeit, dass es eine Abfolge der Ereignisse gab, und dass sie nicht aus heiterem Himmel kam - wer wollte bestreiten, dass Flucht, Umsiedlung und Vertreibung "im Kontext des Zweiten Weltkrieges" zu sehen sind. Aber ebenso selbstverständlich ist, dass ein solcher Vorgang nicht sich in einen allgemeinen und anonymen Kontext einer säkular gewordenen Idee von der "ethnischen Homogenisierung" auflösen lässt, sondern dass es benennbare Akteure, Interessen, Verantwortliche gab. Wie kann es nur sein, dass der Verweis darauf, dass zwischen 12 und 14 Millionen Deutsche am Ende des Krieges aus den Ostprovinzen des Reiches und Länden des östlichen Europa geflohen und vertrieben worden sind und die Feststellung, dass dies die größte ethnische Säuberung des 20. Jahrhunderts war, als Relativierung deutscher Schuld missverstanden werden kann. Was soll revisionistisch sein an der Feststellung, dass es im Gefolge der Flucht, Umsiedlung und Vertreibung der Deutschen auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegeben hat. Und wer kann nur auf den Gedanken kommen, der Unterschied zwischen Vertreibung der Deutschen und Ausrottung der Juden in Europa solle nivelliert oder überhaupt zum Verschwinden gebracht werden. Aber man weiß auch, dass analytische Unterscheidungen, so notwendig und so hilfreich sie sind, individuelles Leiden nicht wirklich fassen können. Es ist auch keine Apologie der Massenvertreibungen, wenn das Denken der Zeit rekonstruiert wird: es gab eben eine Zeit, in der - ein grausamer Irrtum wie sich herausstellte - Bevölkerungstransfers und Bevölkerungsaustausch als definitives Mittel zur Lösung von jahrhundertealten und für unlösbar gehaltenen Konflikten angesehen wurden - von Lausanne 1923 bis Potsdam 1945. Auch bleibt unerfindlich, weshalb es verdächtig oder sogar gefährlich sein sollte, sich mit dem kulturellen Erbe der Deutschen im östlichen Europa zu beschäftigen, weil man damit Beifall von der falschen Seite bekommen würde, wie einem das vor Jahren noch vorgehalten werden konnte.

Freilich hat sich viel getan in den letzten Jahren, den letzten beiden Jahrzehnten. Die Beharrlichkeit und die Initiativen des "Zentrum gegen Vertreibungen" haben, ich muss das gestehen, einen großen Anteil daran. Ich verweise hier nur auf die drei großen Ausstellungen. Seither hat es zahlreiche Filme, Bücher, Erinnerungen, Dokumentationen, auch Romane zum Thema gegeben. Und doch bleibe ich dabei. Auch in mehr als einem halben Jahrhundert Nachkriegszeit haben wir - wenn ich so sagen darf: wir, die deutschen Intellektuellen - es nicht vermocht, eine Sprache zu finden für das, was ein deutscher Historiker von Rang einmal die letzte große Herausforderung für die Geschichtswissenschaft genannt hat. Sie müsste es leisten, in einem Narrativ die doppelte Katastrophe zusammenzubringen, das Unglück, das die Deutschen über Europa gebracht haben und das Unglück, in dessen Sog sie schließlich selbst hineingezogen worden sind. Die Polemiken und das immer gleiche alte Spiel mit Missverständnissen sind ja nur möglich, weil und insofern es eine integrale Erzählung nicht gibt. Ich weiß nicht, ob es je eine geben wird. Es wäre ein episches Werk, in dem das Unglück der vielen Einzelnen nicht verschwindet hinter den monströsen statistischen Zahlenwerken, in denen das Unglück der einen nicht zur Rechtfertigung des Unglücks der anderen geworden ist, in der es keine nachträgliche Sinngebung des Sinnlosen gibt, in der der Zusammenhang, die Kette der Verhängnisse nicht geleugnet wird, wo aber auch keine Logik der Geschichte bemüht werden muss; eine Erzählung, in der alle Landschaften wieder auftauchen, meinetwegen als heile Welten, die sie nie waren, als verbrannte Erde, entvölkert, als verlorene Heimat, aber auch wieder besiedelt und mühsam wieder in Betrieb genommen. Ich glaube, wir, in diesem Fall besonders die Historiker, waren der Aufgabe, dieser doppelten Hinterlassenschaft eine Sprache zu geben, nicht gewachsen, trotz vieler Anläufe und beachtlicher Anstrengungen einzelner. Es gibt Situationen, in denen man verstummt, nicht weil man etwas verdrängen will, sondern weil sich die Sprache nicht einstellt, die Worte sich nicht finden, um Dimensionen eines heillosen Unglücks zu fassen. So etwas gibt es. Und ich habe es für mich immer so umschrieben: wie spricht man über ein großes Verbrechen im Schatten eines anderen noch größeren. Denn, dass diese immer irgendwie ineinander übergingen, konnte niemandem entgehen, der im östlichen Europa unterwegs war. Und dies ist ein Problem aller Deutschen, nicht allein der Vertriebenen.

Es ist nun auch schon ein ganzes Leben, das angefüllt ist von diesem Spurensuchen und Spurenlesen. Man begegnet diesen Spuren, man entgeht ihnen nicht, wo immer man dort unterwegs ist. Man hat immer Doppelstädte vor sich, Doppel- und Mehrfachgeschichten. Man liest immer in mehrsprachigen Stadtplänen und Stadtführern. Die Schichten überlagern sich, und was einmal ein blühender und von Leben vibrierender Kreuzungs- ­und Begegnungspunkt der Kulturen der Deutschen, der Juden, der Polen, der Ruthenen und der vielen anderer Völkerschaften war, das ist am Ende das bereinigte, gesäuberte Gelände, das man im Kopf wieder zusammensetzt, nachdem es auseinandergesprengt worden ist: Vilnius, Riga, Lodz, Lemberg, Czernowitz, Daugavpils, Königsberg, Prag, Sarajewo. Wo immer wir hinkommen, wir wandern durch ein Gelände, auf dem zuvor immer schon andere waren: Kolonisten und Eroberer, Pioniere und Zerstörer, Ingenieure und Christopher Browings "Ganz normale Männer", Deportationszüge und Flüchtlingstrecks. Es gibt, so scheint es, auf dem Schlachtfeld der Diktatoren (Dietrich Beyrau) keine unschuldigen Landschaften und Städte.

Ich muss gestehen, dass ich 1989 den Augenblick gekommen sah, in dem möglich wurde, was der große, unbändige und unabhängige Geist Jan Józef Lipski schon vor der Wende (1985) gesagt hatte: "Wir müssen uns gegenseitig alles sagen, unter der Bedingung, dass jeder über seine eigene Schuld spricht. Wenn wir dies nicht tun, erlaubt uns die Last der Vergangenheit nicht, in eine gemeinsame Zukunft aufzubrechen". Ich war überzeugt, dass der Augenblick da sein wird, in dem wir stark genug sein werden, uns alles sagen zu können, was wir sagen müssen, wahrhaftig, unverstellt, ohne falsche Rücksichtnahme. Es war jener glückliche Augenblick, in dem die Deutschen durch die friedliche Revolution im östlichen Europa in ihre Einheit entlassen wurden, jener glückliche Moment, der - das kann ich nicht verschweigen - durch ein Zögern, ein Moment des Taktierens, in einem Augenblick, da eine ganze Epoche zu Ende ging, gefährdet war. Alles schien damals möglich und war es auch. Hinzu kam der Ausbruch des Krieges, in dem der Vielvölkerstaat Jugoslawien zugrunde ging und wo mit einem Mal ein Thema wieder auf die Tagesordnung gesetzt war, das als historisches längst erledigt schien. Nun war es zurück und wurde zum Katalysator einer Geschichte, mit der die Deutschen und ihre Nachbarn selber noch nicht ganz fertig geworden waren, weil sie in einen langen, allzu langen Kalten Krieg verwickelt waren. Was es alles gab nach 1989: Konferenzen in Warschau, Dokumentenveröffentlichungen, eine Flut von Übersetzungen, Öffnung der Archive, junge Schriftsteller auf Spurensuche in Städten, in die ihre Eltern gekommen waren und wo die Inschriften auf jene verwiesen, die darin unlängst noch gewohnt hatten, eine Stimmung des Aufbruchs, die uns alle mit großer Zuversicht erfüllt hatte. Die Zeit des Aufrechnens und der alten Rechthaberei schien vorbei zu sein - für immer. Aber dann hat es doch noch ein Jahrzehnt gedauert, bis es über viele Vorarbeiten, Vorstufen und offenbar unvermeidliche Polarisierungen und Antagonisierungen hinweg zur Gründung des "Sichtbaren Zeichens" - der Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" - in Berlin gekommen ist. Nun, in diesen Wochen mit einem Konzept, das einen Raum schafft nicht für die europäische Erzählung, wohl aber für unterschiedliche Sichten auf das "Jahrhundert der Flüchtlinge" und die Deutschen darin im Besonderen. Ich bin nicht so naiv, die Schwierigkeiten in der Bewältigung dieses Kapitels deutscher und europäischer Geschichte zu übersehen. Der Teufel steckt auch hier im Detail, wie ein den Deutschen wohlgesonnener wie skeptischer polnischer Historiker bemerkte. Die Schwierigkeiten sind mir geläufig. Aber ich kann auch sagen, dass sie mehr von außen kommen, und dass die Diskussion in Wahrheit interessierter, sachlicher abläuft als mancher Bedenkenträger, dem es schwerfällt, aus den Lagerkämpfen von gestern auszusteigen, meint. Seit fast 20 Jahren halte ich Vorlesungen, Seminare, Konferenzen zum Thema. Ich frage die jungen Leute, weshalb sie sich dafür interessieren, ob sie familiär etwas mit dem Thema zu tun haben. Es melden sich dann: Deutsche, Polen, Ukrainer, Studierende aus dem Baltikum. Interessant ist auch, dass Studenten aus deutsch-türkischen Familien ganz überrascht sind, dass es so etwas überhaupt gegeben hat - deutsche Flüchtlinge - und dass es auch Migranten mit deutschem Hintergrund gibt, obwohl diese sich nicht als solche sehen: Aussiedler, Russlanddeutsche. Es werden Dissertationen zu schmerzlichen Themen geschrieben - über Breslau und den Bevölkerungsaustausch, über die Verwandlung Stettins ins polnische Szczecin, über die imaginären Bilder vom Riesengebirge und Gerhardt Hauptmanns Villa in Agnetendorf, Arbeiten über geteilte Städte nach 1945 und die moderne Architektur im Kattowitz der 20er Jahre. Dazu gehören Exkursionen nach Königsberg/Kaliningrad, nach Toruń/Thorn, nach Lódz oder nach Grodno oder Brünn, geführte Touren, wo deutsche und polnische Heimatvertriebene zusammenkommen, die sich, wie sich herausstellte, oft mehr zu sagen haben als Angehörige der Vertriebenen und Nicht-­Vertriebenen der deutschen Normalgesellschaft. Das gehört alles unaufgeregt und höchst anregend zum Alltag einer Generation, die den Vorteil hat nach den Spannungen und Verspanntheiten des Kalten Krieges und schon jenseits der alten Lagermentalitäten aufzuwachsen.

Und doch wäre es eine Untertreibung, wenn man behaupten würde, es gäbe keine Probleme mehr. Die Vorstellung, man könnte alles, was unsere Völker sich einander angetan haben, in einer einzigen großen Erzählung zusammenfassen, ist - vorerst jedenfalls - unrealistisch. Niemand sollte das verlangen. Unterschiedliche, ja diametral entgegengesetzte Erfahrungen lassen sich nicht per Dekret vereinheitlichen, auf einen Nenner bringen. Versöhnungen, die über solche gleichsam verabredete Sprachregelungen zustande kommen, sind brüchig. Was aber möglich ist, und was nach langem, gemeinsamem Suchen erwartet werden kann, ist, dass es einen Raum gibt, in dem unterschiedliche Erfahrungen dokumentiert, artikuliert, analysiert werden können. Es muss möglich sein, sich die Geschichte der anderen anzuhören. Wir müssen sie ertragen und aushalten können. Was dann daraus wird, wir werden sehen. Das ist alles andere als Relativismus, das ist alles andere als Gleichmacherei, in der alle Katzen grau sind, sondern es ist das Zurkenntnisnehmen und Fixieren der unterschiedlichen Perspektiven auf möglicherweise denselben Vorgang. Dieser Raum ist kostbar und muss verteidigt werden gegen Übergriff von welcher Seite auch immer. Wir können nur hoffen, dass irgendwann sich die Elemente herauskristallisieren, die zusammengesetzt ein genaueres, ein angemesseneres, ein gerechteres Bild ergeben, indem wir uns alle wiedererkennen können. Dies ist soweit ich sehe auch der eigentliche Fortschritt in dem Konzept, das der Gestaltung der künftigen Dauerausstellung der Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" zugrundeliegt. Wenn man so will, ist das ein kleiner, aber doch bedeutender Fortschritt in einem Jahrzehnt, in dem es ansonsten nach dem Aufbruch nach 1989 Rückschläge und Enttäuschungen gegeben hat. Ob am Ende dann jenes Epos der europäischen Zwangsmigrationen stehen wird, steht dahin. Vielleicht findet sich der Autor, der dies auf sich nimmt und leisten kann.

Was mir aber jetzt schon klar erscheint, ist, dass es weitere Aufgaben gibt, die der jetzt lebenden und der noch folgenden Generation aufgegeben sind. Es gibt eine Geschichte der Deutschen vor Hitler, und ihr Schauplatz ist über viele Jahrhunderte hinweg das mittlere und östliche Europa gewesen. Sich dieser Geschichte zu vergewissern, ist eine Sache, die nichts mit Nostalgie zu tun hat. Die Geschichte der Deutschen im östlichen Europa ist mit dem Weltkrieg und seinen Folgen ebenfalls in den Abgrund gerissen worden wie auch die Geschichte der Juden im östlichen Europa. Es bedurfte und bedarf regelrechter wissenschaftlicher Wiederaufbauarbeit. Die Kategorien, in denen diese Geschichte erforscht und erzählt werden kann, müssen auf die Höhe der Zeit gebracht werden. Es handelt sich eben nicht bloß um eine Volks- oder Nationalgeschichte, sie ist zugleich Geschichte einer eindrucksvollen europäischen Modernisierungsbewegung, Entwicklungsgeschichte, transnational und vielfach verzweigt, eine Geschichte der Weitläufigkeit und Verbundenheit mit den Völkern des östlichen Europa. Aus all diesen Gründen kann sie nur in Zusammenarbeit gelingen, schon wegen der regionalen und lokalen Bedingungen, wegen der erforderlichen sprachlichen Kompetenzen, der über mehrere Länder verteilten archivalischen Überlieferung und der Bibliotheken. Es gehört meines Erachtens zu den großen Aufgaben einer ganzen Generation von Arbeitern im Weinberg der Wissenschaften - aber nicht nur dieser - diesen Schatz zu heben, neu zum Leuchten zu bringen. Das wäre Europäiztität at its best, nicht aus Gründen der korrekten Sprachregelung. Was hier für die Deutschen gesagt wurde, gilt auch für andere, für die Polen, die in den kresy unterwegs sind, oder für die Russen mit ihren baltischen Verbindungen: es geht um das Sichtbarmachen von Bezügen und Beziehungen, die im Laufe des ethnonationalistischen Säuberungswahns unterbrochen oder ganz gelöscht worden sind. Es geht um kulturelle Aneignungsprozesse, die umso mehr gelingen können, wenn sie frei bleiben von Besitz-und Eigentumsansprüchen, die alles wieder in Frage stellen und uns dazu verurteilen, alles wieder ganz von vorn zu beginnen. Das mittlere und östliche Europa war für lange Zeit die Region der wandernden Grenzen, der sich überlagernden Sprachen und Kulturen, des Ineinander der Völker, das im Großen und Ganzen zwar nie konfliktfrei war, aber doch irgendwie funktioniert hat. Diese Verflechtung, dieses Relief, den Reichtum der kulturellen Bezüge sichtbar zu machen und die furchtbare Verarmung, die Krieg und Gewaltherrschaft über diese Region gebracht hatten, irgendwie zu überwinden - das wäre eine Arbeit an Europa, die sich wirklich lohnen würde.

Die Organisationen der Vertriebenen haben mit ihren Museen, Bibliotheken, Heimatstuben viel geleistet, um den Zusammenhang zu bewahren und nicht abreißen zu lassen. Aber auch hier gilt was für das "Zentrum" gilt: Dieses Wissen gehört in die Mitte der Gesellschaft. Ihrer bedürfen nicht allein die Vertriebenen oder deren Kinder und Kindeskinder, sondern eine Gesellschaft, die eine genauere Vorstellung von sich selber gewinnen will. Dazu gehören Schulen, Universitäten, Bildungseinrichtungen im weitesten Sinne. Darin bleibt dieses Wissen aufgehoben, aufgehoben in einem doppelten Sinne: aufbewahrt und eingefügt - wie selbstverständlich - in unser Wissen von uns selbst. Das wäre eine Heimkehr in ein Land, das aufgehört hat, eine "Kalte Heimat" zu sein. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Karl Schlögel, Oktober 2012

Zurück