Franz-Werfel-Menschenrechtspreis 2010

Petr Uhl

Laudatio

Sehr geehrter Herr Vondráček, sehr geehrte Frau Steinbach, sehr geehrte Damen und Herren vom Zentrum gegen Vertreibungen, sehr geehrte Anwesende!

Es ist für mich eine große Ehre, dass ich hier, in der denkwürdigen Paulskirche die Laudatio auf den tschechischen und wahrhaft europäischen Journalisten David Vondráček halten darf. Es ist die Laudatio anlässlich der Verleihung des Franz-Werfel-Menschenrechtspreises, den das Zentrum gegen Vertreibungen bedeutenden Persönlichkeiten der europäischen Verständigung verleiht.

Für mich ist schon der Name des Preises ermutigend. Es war Franz Werfel, ein deutsch schreibender Schriftstellter aus einer Prager jüdischen Familie, der mit seinem Roman aus dem Jahr 1933, „Die vierzig Tage des Musa Dagh“, die an den Armeniern im Osmanischen Reich begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit leidenschaftlich anklagte. An Werfels Roman zu erinnern ist auch deshalb richtig, weil das Buch im Dritten Reich, wegen der Parallelen zum Genozid an den Juden im nazistischen Europa, verboten war.

Das Zentrum gegen Vertreibungen wurde von zwei großen deutschen und europäischen  Demokraten gegründet, der hier anwesenden Erika Steinbach von der Christlich demokratischen Partei und dem bereits verstorbenen Peter Glotz von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, der aus Eger stammte und somit auch ein recht enger Landsmann von David Vondráček war. Die Laudatio in diesem Rahmen zu halten ist für mich auch deshalb eine Ehre, weil das Zentrum gegen Vertreibungen durch die Verleihung des Menschenrechtspreises an David Vondráček beweist, dass es die Ziele, die es sich gesetzt hat, erfüllt. Es setzt sich nämlich für die Erhaltung der miteinander verflochtenen Kultur und Geschichte, des miteinander verknüpften Schicksals der deutschen und europäischen Vertriebenen ein, indem es nicht nur hilft, ihre kulturellen Traditionen zu bewahren, sondern sich auch damit befaßt, wie sie in den neuen Gesellschaften, wohin sie – oder ihre Eltern - vertrieben wurden, aufgenommen und integriert wurden.

Ich glaube, Peter Glotz hat das vor neun Jahren sehr gut ausgedrückt:

„Das Zentrum gegen Vertreibungen soll nicht vor allem unsere Erinnerungen pflegen, es soll dazu beitragen, Vertreibungen weltweit zu ächten, die Völkergemeinschaft zu sensibilisieren und die Auseinandersetzung mit Ethnonationalismus und der Idee des ethnisch homogenen Nationalstaats systematisch zu führen. Insofern wird dieses Zentrum ein Beitrag zur Bekämpfung des Rechtsradikalismus und Rechtspopulismus sein.“

Dieser Idee entspricht auch die bisherige journalistische Tätigkeit von David Vondráček. Er selbst sagt, er versuche in seinen Filmdokumenten die große und die kleine Geschichte miteinander zu verknüpfen. Diese beiden Arten der Geschichte, mit denen er sich befasst, die große und die kleine Geschichte, das sind die Geschichte der Verbannten und Vertriebenen, die Geschichte ihrer Leiden und manchmal auch ihres Todes. Verbunden damit ist auch das Schicksal jener, die Täter oder Zeugen dieser Handlungen waren. Und es geht bei weitem nicht nur um die Deutschen, die in den Jahren 1945 und 1946 aus der Tschechoslowakei nach Deutschland und Österreich vertrieben wurden. David Vondráček geht es nicht nur um dieses Leid, sondern auch um das Leben der Vertriebenen danach. Ihm geht es auch um die Erinnerungen und das Leben jener, die direkt oder indirekt an der Vertreibung schuld waren, und um die Erinnerungen ihrer Nachkommen.

Der heutige Laureat David Vondráček wurde 1963 in Marienbad geboren, wuchs in Chodau bei Karlsbad auf und absolvierte das Gymnasium in Falkenau. In seiner Kindheit besuchte er häufig seine beiden Großmütter, die unweit von Marienbad lebten – die eine in Dürrmaul, die andere im Ort Dreihacken. Beide waren Deutsche, sind aber paradoxerweise erst nach dem II. Weltkrieg in die Gegend von Marienbad gekommen. Die Großmutter väterlicherseits, mit Mädchennamen Nowak, stammte aus Netschetin bei Manetin, also aus der Gegend von Pilsen, wo Deutsche und Tschechen lebten. Die Großmutter mütterlicherseits war Karpatendeutsche, die Tochter des Kleinbauern Schmidt aus dem Dorf Oberstuben im Kreis  Bad Stuben, wo vor allem Deutsche und Magyaren lebten. David Vondráčeks Großvater mütterlicherseits, František Vaněk, stammte aus Krasoňov, einem Dorf auf der Böhmisch-Mährischen Höhe, der als Tscheche, zusammen mit seiner Frau, 1939 die klerofaschistische Slowakei, in der Tschechen verfolgt wurden, verlassen musste. Vertreibung gab es also in David Vondráčeks Familie schon bevor er geboren wurde, ebenso wie die Besiedlung eines Gebietes, wo zuvor die späteren Vertriebenen lebten.

Seit seiner Kindheit war David Vondráček mit der ethnischen, sprachlichen und kulturellen Andersartigkeit konfrontiert. Er wuchs in einer Gegend auf, wo neben den Tschechen aus dem Landesinneren Reste von Sudetendeutschen lebten, vor allem aus deutsch-tschechischen Familien. Hier lebten aber auch Wolhynientschechen, die nach dem Krieg aus der sowjetischen Westukraine gekommen waren. In den Dörfern um Tachau herum, lebten auch orthodoxe Ruthenen, die aus dem nordöstlichen Rumänien stammten und von der örtlichen Bevölkerung für Rumänen gehalten wurden; nach dem Krieg wurden sie von den Behörden zu Slowaken gemacht, damit sie als ethnische Tschechoslowaken entsprechend den Dekreten von Präsident Edvard Beneš ins Sudetenland umgesiedelt werden konnten. David Vondráček begegnete auch Tschechen aus Preußisch-Schlesien, es waren teilweise kulturell germanisierte reformierte Protestanten, die zweihundert Jahre friedlich im deutschen Reich gelebt hatten und denen es nie eingefallen wäre dorthin zurückzukehren, von wo ihre Ahnen gekommen waren, wenn ihnen nicht als angeblichen Deutschen in den nach dem II. Weltkrieg neu erworbenen polnischen Gebieten die Zwangsaussiedlung gedroht hätte. Deren Gemeinschaft hält bis heute in Dreihacken zusammen, wo Gebetshäuser der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder stehen.

Aus den persönlichen Erkenntnissen gingen später auch einige Filmdokumente von David Vondráček hervor. Ein einstündiger Film behandelt das Thema von Familien, die ins ausgesiedelte Sudetenland kamen. Den Film Do země (ne)zaslíbené [In das (un)gelobte Land] (2008) hat er in bitter-süßen Tönen abgefaßt, die die Kernbotschaft unterstreichen, dass viele von ihnen auch nach 60 Jahren nicht mit dem Ort verwachsen konnten und ständig in die frühere Heimat zurückkehren (in den Erinnerung, bei Ausflügen und Reisen).

Neben den erwähnten Themen befasste sich der heutige Laureat auch mit zwei Gruppen ethnischer Tschechen: aus dem so genannten Böhmischen Winkel im Glatzer Land und aus dem niederösterreichischen Weitraer Gebiet. Als angeblichen Deutschen drohte den Glatzer Tschechen die Vertreibung aus einem Gebiet, das 1945 an Polen gefallen war, und so sind sie in der Mehrzahl unfreiwillig freiwillig in das benachbarte Böhmen umgesiedelt. Anrührend ist die Aufnahme des Autors von der vermutlich letzten Tschechin aus dem Glatzer Land, die mit ihren 80 Jahren ein wunderbares Tschechisch des 19. Jahrhunderts spricht.  Den Tschechen aus dem Weitraer Gebiet war es noch schlimmer ergangen. In der Zeit von 1920 bis 1950 sind sie drei Mal verfolgt und aus ihren Wohnstätten vertrieben worden, das empfinden sie bis heute als Unrecht.

David Vondráček filmte aber nicht nur „ethnische“ oder „Vertreibungs“-Dokumente. Er weist auf die Gefahren hin, die von der äußersten Rechten und von der äußersten Linken ausgehen (Nespokojené náměstí – Der unzufriedene Stadtplatz aus dem Jahr 1991), (Touha po pořádku – Die Sehnsucht nach Ordnung aus dem Jahr 1992), auf das Schicksal eines tschechoslowakischen Legionärs, der 1945 wegen Kollaboration mit der deutschen Besatzungsmacht verurteilt wurde (Dvacáté století Aloise Vocáska – Das zwanzigste Jahrhundert des Alois Vocásek aus dem Jahr 1995). Immer wieder kehrt er zu den Tragödien des Nationalsozialismus zurück, des Krieges und der Nachkriegsvertreibung, er schuf auch ein Porträt des damaligen Sprechers der Sudetendeutschen Landsmannschaft (Návraty Franze Neubauera – Die mehrfache Rückkehr des Franz Neubauer, aus dem Jahr 1993). Er drehte eine Reportage über tschechische antinazistischen Widerstandskämpfer, die in Höhlen im Harz eingekerkert waren, wo sie Werkteile für die V1 und V2 montierten; einer seiner Filme befasst sich auch mit den jüdischen Zwillingsbrüdern Steiner aus Prag, die der Kriegsverbrecher Josef Mengele für seine „Versuche“ missbrauchte.

Unser Laureat widmet sich aber auch unpolitischen Themen. Zu erwähnen ist, dass ihm sein Schaffen und die Aufführungen seiner Filme das öffentlich-rechtliche Tschechische Fernsehen ermöglicht und auch, dass ihn die Gesellschaft Febio oftmals unterstützt hat.

Die thematische Vielfalt habe ich deshalb hervorgehoben, weil David Vondráček im letzten Jahr in der Tschechischen Republik vor allem mit zwei Filmen berühmt geworden ist. Die auf dem Gebiet der Tschechoslowakei geschehenen Nachkriegsverbrechen, deren Opfer Deutsche waren, gerieten nämlich nicht zufällig in das Werk von David Vondráček, sie sind ein natürlicher Bestandteil seines mehr als zwanzigjährigen filmischen Schaffens.

Ja, ich spreche nun über das Filmdokument Zabíjení po česku – Töten auf tschechisch. Dieses Filmdokument ist das bisher suggestivste Dokument, das in der Tschechischen Republik über die nach Kriegsende stattgefundenen ethnischen Säuberungen, über die an der alteingesessenen deutschen Bevölkerung begangenen Morde, gedreht worden ist.

Zentrales Thema dieses Dokuments ist das Geschehen im nordböhmischen Postelberg, wo Soldaten der tschechoslowakischen Armee und Mitglieder der Revolutionsgarde einen Monat nach Kriegsende 763 deutsche Zivilisten erschossen haben. Erstmals sprachen hier vor der Kamera Zeugen aus Böhmen sowie aus Deutschland, Zeugen eines Massakers, das für immer verschwiegen werden sollte.

Der Autor hat auch das historische Filmmaterial von Jiří Chmelíček in den Film aufgenommen, des Vaters von Frau Helena Dvořáčková, das mit weiteren Filmaufnahmen aus dem Familienleben, alle mit einer Sechzehnmilimeterkamera gefilmt, kontrastreich zusammengeschnitten wurde. Der Bauingenieur Jiří Chmelíček hat in der Protektoratszeit die verschiedensten Momente aus der Kindheit seiner Tochter, der kleinen Helena, auf Film gebannt. Die Aufnahmen von dem Massaker im Prager Stadtteil Dejvice umfassen nur einige Minuten, die Grundlage des Filmdokuments bilden Postelberg, Miröschau und vor allem das südböhmische, respektive niederösterreichische Weitraer Gebiet.

In Film spricht auch Frau Dvořáčková, sie beschreibt die Momente in denen die Filmaufnahmen ihres Vaters entstanden. Die grausamen Bilder sind vom 9. Mai 1945, als Herr Chmelíček mit seiner Kamera aus dem Haus geht und den Ablauf der Ereignisse auf sehr plastische Weise einfängt. Er dreht die Ankunft der sowjetischen Soldaten und die sie willkommen heißenden Menschenmassen, so, wie wir Tschechoslowaken das aus den Wochenschauen kennen. Dann sehen wir aber, wie aus dem Kino in Prag-Bořislavka Deutsche in Gruppen herausgeführt werden, ein Teil von ihnen stellt sich in einer Reihe auf – zweiundvierzig Männer und eine Frau – und sie werden dort erschossen. Nach der Sendung meldeten sich glaubwürdige Zeugen, die bestätigten, dass es alteingesessene Deutsche aus dem Stadtteil Hanspaulka und anderen Stadtteilen in Prag-Dejvice waren.

Während der Arbeit an dem Filmdokument hat David Vondráček zu vielen Fragen Tomáš Staněk konsultiert, einen Historiker am Schlesischen Institut des Schlesischen Landesmuseums in Troppau, der bereits Ende der achtziger Jahre, als erster tschechischer Historiker, die Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei bearbeitet hat.

Vorsichtshalber lässt der Regisseur Vondráček im Filmdokument die Frage offen, wer eigentlich mordete, auch wenn damals schon klar war, dass sich die Sowjets und die Revolutionsgardisten abwechselten; Zeitzeugen berichten, dass der sowjetische Offizier  bereitwillig den Revolutionsgardisten seine Maschinenpistole überließ.

Nachdem das Tschechische Fernsehen den Film zur besten Sendezeit gezeigt hatte erhob sich in der Tschechischen Republik eine nationalistische Entrüstungswelle: Wie kann jemand die Tschechen so anschwärzen? Im Fernsehen, in der Uniform eines tschechischen Armeeoffiziers, behauptete, ohne rot zu werden, Eduard Stehlík, Historiker im Militärhistorischen Institut, einer Einrichtung des Verteidigungsministeriums, dass die Täter des Massenmorde sowjetische Soldaten waren. Wie dann Eduard Stehlík selbst einräumte, hat er die vernichtende Filmkritik geschrieben, bevor er den Film ganz gesehen hatte – die Aufnahmen von Herrn Chmelíček waren nämlich im Fernsehen öfter zu sehen, als der Film selbst. Das Militärhistorische Institut löschte zwar auf seinen Webseiten die nationalistische Kritik, aber zur Sache hat es sich danach nicht mehr geäußert.

Mir als aufgeklärtem Beobachter der Polemiken um den Film „Töten auf tschechisch“ schien es aber, dass diejenigen, die die Wahrheit unterdrücken und sie gegebenenfalls nationalistisch „erklären“ wollten, in der tschechischen Gesellschaft doch schon in der Minderheit sind. Davon zeugt auch der verhältnismäßig geringe Protest hinsichtlich der letzten Filmaufnahme von David Vondráček über den Massenmord an deutschen Bauern aus der Umgebung von Dobrenz auf der Böhmisch-Mährischen Höhe (Kreis Iglau), begangen von den örtlichen Revolutionsgardisten. Das Dokument fand bei der Öffentlichkeit große Beachtung. Allerdings warf dieser Film eine weitere Frage auf – wie war es möglich, dass man im Ort und in der Umgebung seit 60 Jahren von diesem Massenmord wusste und niemand darüber sprechen und schreiben wollte, geschweige denn zu ermitteln und zu bestrafen versuchte?

In Verbindung mit dem bisherigen „deutsch-tschechischen“ dokumentarischen Schaffen von David Vondráček stellt sich hier die letzte Frage: Wie kommt es, dass sich die Mehrzahl der Tschechen um diese Schicksale und die damit verbundenen politischen, historischen und immer noch bestehenden juristischen Probleme nicht kümmert, nichts von ihnen wissen will? Und ebenso: Warum gibt es so wenige Deutsche, die bestrebt sind, zusammen mit den Tschechen, diese Verbrechen zu beschreiben und aufzuklären?

David Vondráček verletzt mit seinen Filmdokumenten diese Tabus. Deshalb bekommt er heute den Franz-Werfel-Menschenrechtspreis, dafür gebührt ihm unser aller Dank, der Dank der Tschechen, der Deutschen, der Slowaken, der Österreicher und weiterer Europäer. Wichtig ist dies vor allem deshalb, damit sich das Grauen der nationalsozialistischen Diktatur und aller anderen Diktaturen, das Grauen autoritärer Politikstile und des Nationalismus nicht wiederholen.

Zurück