Franz-Werfel-Menschenrechtspreis 2009

Erika Steinbach MdB Vorsitzende der Stiftung

Begrüßungsrede

Zum vierten Male verleiht die Stiftung ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN den Franz-Werfel­Menschenrechtspreis.

Die diesjährige Entscheidung der Jury kommt dem Namensgeber unseres Preises besonders nahe.

Franz Werfel hat mit seinem Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh" eindringlich und mit großer Gestaltungskraft die Vertreibung und den Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich literarisch dargestellt.

Herta Müllers jüngstes literarisches Werk trägt das weithin unbekannte Schicksal der in sowjetische Lager verschleppten Deutschen in das Licht einer breiten Öffentlichkeit.

Als wir am 1. Oktober 2009 in der Jury beisammen saßen und beratschlagten, wer in diesem Jahr Preisträger oder Preisträgerin werden sollte, konnten wir das unvoreingenommen tun. Der Literaturnobelpreis war noch nicht vergeben.

Unsere Wahl fiel unter mehreren preiswürdigen Persönlichkeiten auf Herta Müller mit ihrem Werk „Atemschaukel".

Der Franz-Werfel-Menschenrechtspreis ist, das macht schon der Name deutlich, kein Literaturpreis. Die Sprache spielte bei der Preisträgerentscheidung dennoch eine entscheidende Rolle.

Herta Müller ist es gelungen in singulärer Sprachintensität und psychologischer Eindringlichkeit ein Menschenrechtsthema aufzunehmen, das weitgehend unbekannt ist. Sie hat dem vielfältigen Schrecken von Deportation und Zwangsarbeit einzigartig Ausdruck verliehen. Damit hat sie den Opfern ein unvergängliches Denkmal gesetzt.

Die Deportation deutscher Zivilpersonen zur Zwangsarbeit war eine systematisch betriebene Aktion der obersten sowjetischen Führung. Schon 1941 hatte Stalin die Deportation der Deutschen aus ihren angestammten Wohngebieten nach Kasachstan und Sibirien angeordnet und zu Zwangsarbeit eingesetzt. Am Ende des Zweiten Weltkrieges ereilte sie Zivilpersonen im damaligen Ostdeutschland und Deutsche in Rumänien, Ungarn, Jugoslawien und Polen.

Die Organisation der Verschleppungen lag bei den jeweils erobernden Streitkräften der Roten Armee. Sie hatten die Aufgabe, möglichst schnell eine möglichst große Zahl arbeitsfähiger Deutscher zusammen zu treiben. Es gab von Armeeverband zu Armeeverband ein „Verschleppungssoll". Die Altersgruppen und der Geschlechteranteil waren dabei unterschiedlich. So wurden in Ostpreußen in Ermangelung arbeitsfähiger Männer überwiegend Frauen und Mädchen von 15 bis 50 Jahren ergriffen und deportiert und die wenigen Männer sogar bis zum 60. Lebensjahr.

Anders als Ungarn oder die von den Sowjets besetzen deutschen Ostgebiete galt Rumänien zum damaligen Zeitpunkt nicht mehr als „Feindesland". Die rumänische Regierung vermochte sich der von den Sowjets geforderten Stellung von Arbeitskräften dennoch nicht ganz zu entziehen, doch wurde die Aktion im wesentlichen auf die arbeitsfähigen Jahrgänge der volksdeutschen Bevölkerung beschränkt.

Unter den Deutschen des rumänischen Sathmar-Gebiets hatten die Deportationen schon am 2. und 3. Januar 1945 begonnen. Nachdem die Aktion in der Nacht vom 10. zum 11. Januar 1945 in Kronstadt und Bukarest angelaufen war, setzten die Aushebungen schlagartig im ganzen Lande ein. Die Deportation in Rumänien vollzog sich nach einem von den rumänischen Behörden sorgfältig

vorbereiteten Plan. Auf Grund der im Herbst durchgeführten Registrierung wurden Listen der Deutschen zusammengestellt, die in die zur Deportation vorgesehenen Altersklassen fielen: Männer von 17 bis zu 45, Frauen von 18 bis zu 30 Jahren. Übergriffe nach oben und unten waren vor allem auf dem Lande häufig. Vor Beginn der Aktion wurden die Ortsausgänge vielfach durch Polizei, Militär oder auch rumänische Freiwillige abgesperrt, Telefon-, Telegraf- und Eisenbahnbetrieb unterbrochen, so dass eine Flucht nur sehr begrenzt möglich war. In den Städten gingen gemischte rumänisch­sowjetische Patrouillen von Haus zu Haus, um die Betroffenen auszuheben; zum Teil wurden sie völlig unvorbereitet in den Straßen aufgegriffen. Die deutschen Einwohner auf den Dörfern wurden vielfach kurzerhand durch den Gemeindeboten oder Gendarmen aufgefordert, sich zu fest gesetzter Zeit im Gemeindeamt oder in der Schule einzufinden.

Ein Großteil leistete schon der ersten Aufforderung Folge, wobei man oft an einen der üblichen kurzfristigen Arbeitseinsätze glaubte. Andere suchten sich zu verstecken, wurden aber durch die Razzien und Hausdurchsuchungen der folgenden Wochen nachträglich erfasst. Die Drohung, Eltern oder Verwandte als Geiseln zu verhaften, bewegte manchen, sich freiwillig zu stellen. Dennoch gelang es nicht wenigen, sich der Deportation zu entziehen. Trotz der damit verbundenen Gefahren erwiesen sich die rumänischen Nachbarn, ja selbst rumänische Beamte und Offiziere in vielen Fällen über Erwarten hilfsbereit.

Die politische Haltung des Einzelnen spielte bei den Aushebungen keine Rolle. Die Insassen der Internierungslager waren ebenso betroffen wie die zum Teil aktiven deutschen Kommunisten des Industriezentrums Reschitza und die madjarisierten Schwaben des Sathmar-Gebiets. Selbst die noch in der rumänischen Armee dienenden Deutschen sollten ausgehoben werden, wurden allerdings zum Teil von ihren Vorgesetzten gedeckt.

Als die Aktion nach mehreren Wochen endgültig abgeschlossen wurde, waren insgesamt nahezu 80.000 Volksdeutsche deportiert worden.

Ihr Schicksal entsprach im allgemeinen dem ihrer Leidensgenossen aus Ungarn, aus Jugoslawien und den deutschen Ostgebieten, wenn sie auch als nominell „freiwillige" Aufbauarbeiter in Russland im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten zum Teil günstiger behandelt wurden.

Die Masse der Deportierten wurde in den Jahren 1948/49 nach Rumänien oder Deutschland zurückgeführt; die letzten konnten erst 1950/51 heimkehren. Nach zuverlässigen Schätzungen muss mit einer Todesquote von nahezu 15 Prozent gerechnet werden: mehr als 10.000 kehrten nicht zurück. Von den Heimkehrern blieb fast die Hälfte in Deutschland und Österreich.

Die Todesrate der aus dem ostdeutschen Bereich Verschleppten betrug rund 50 Prozent.

Insgesamt wurden am Ende des Krieges etwa 1,5 Millionen deutsche Zivilisten zur Zwangsarbeit in sowjetische Lager verschleppt.

Mit dieser Massenverschleppung Deutscher begnügte sich Stalin nicht. Aus den von der Roten Armee eroberten Ländern wurden ebenso politisch missliebige Zivilpersonen deportiert. Über die sowjetischen Lager hinaus gab es für die deutsche Zivilbevölkerung, insbesondre in Polen und den polnisch verwalteten Gebieten, in der Tschechoslowakei und Jugoslawien über Jahre hinweg insgesamt weit über 2000 Lager. In Jugoslawien geriet die gesamte deutsche Bevölkerung, die nicht rechtzeitig geflohen war, in Titos Lagerhaft. Ein Drittel davon überlebte nicht.

Die Traumata dieser Jahre wirken bei den Überlebenden und ihren Nachkommen bis heute nach. Was die schlichte Vokabel „Lager" bedeutet, das legt Herta Müller sensibel und dennoch schonungslos offen.

Ihr Werk „Atemschaukel" ist sublimer Ausdruck einer genialen Aufarbeitung. Dafür erhält sie heute unseren Franz-Werfel-Menschenrechtspreis.

Ich begrüße zur Preisverleihung mit besonderer Herzlichkeit zehn Überlebende sowjetischer Lager:

Erika Condriuc (Enakiewo / Donezbecken)

Eva Kutschick (Almaznaja / Donezbecken)

Karl-Heinrich Galter (Lisitschansk / Lager 1216)

Hans Roch (Tschulkovka)

Waltraut Götz (Orsk)

Gertraud Salmen (Almaznaya / Donezbecken)

Günther Guni (Petrovska)

Edith Schnell (Makeewka / Donezbecken)

Ottilia Jakobi (Makeewka / Donezbecken)

Irene Weber (Asbest / Jekaterinenburg).

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