Ilija Trojanow, Franz-Werfel-Menschenrechtspreis 2009

Franz-Werfel-Menschenrechtspreis 2009

Laudatio Ilija Trojanow, Schriftsteller

Zu Ehren: Herta Müller

Der Franz-Werfel-Menschenrechtspreis ist kein Literaturpreis. Das besagt schon sein Name, aber auch die Identität des Stifters und die Galerie bisheriger Preisträger. Aber er ist nach einem Autor benannt und er wird heuer einer Autorin verliehen. Nimmt man diese Auszeichnung ernst, kann man nicht umhin sich zu fragen, was Literatur gegen die Mißachtung von Menschenrechten ausrichten kann und was das Werk von Herta Müller zur Verteidigung der Menschenrechte leistet. Ich möchte daher zu diesem Anlaß neben ihrer Dichtkunst auch ihre Hingabe und ihren Mut preisen, in fester Überzeugung, daß ihre Stimme sowohl für unser Verhältnis zur Vergangenheit als auch für die Vision einer würdevolleren Zukunft unabdingbar ist.

Die Toten unterliegen nicht den Menschenrechten. Sie werden in keiner der Chartas erwähnt, die als juristischer Grundstock dienen. Den Lebenden werden umfassende Rechte zugestanden, auch wenn sie in kaum einem Staat tatsächlich garantiert sind, denn Toten aber wird nichts gewährt, weder einen Anspruch auf Gehör noch ein Recht auf Teilhabe am Fortleben. Sie haben kein Recht darauf, daß ihr Leid oder ihr Wirken nicht in Vergessenheit gerät. Nein, die meisten Toten sühnen ihr Opfer mit Vergessen. In Zeiten von Frieden und einem Minimum an Freiheit sorgen die Nachkommen, die geistigen Erben, für Erinnerung. In Epochen des Krieges und des Staatsterrors werden die Ermordeten, zu Tode Gequälten, zur Selbstaufgabe Gezwungenen zum Schweigen gebracht, ins Schweigen gewickelt und an unbekanntem Ort verscharrt. Ihre Stimme bleibt im Nachleben nicht hörbar. Ihr Leben wurde ebenso ausgelöscht wie die Spuren ihres Dagewesenseins. Zumal die Täter, die Nachfolger der Täter und all jene, denen mit Friedhofsruhe gedient ist, für andauerndes Schweigen sorgen, für Verschweigen. Mord ist der schlimmste Maulkorb; Massenmord das Herausschneiden einer gemeinschaftlichen Zunge. Bis jemand wie Herta Müller daher kommt, jemand, die sich unbeugsam die Aufgabe gestellt hat, die Verstummten zum Wort zu erwecken.

Der Ursprung dieser Haltung, das ist ihren autobiografischen Auskünften deutlich zu entnehmen, liegt in den ‘einfachen Dingen des Lebens’, wie man so leichtfertig sagt, in den Dingen des Alltags, den Urdingen des Daseins, die Herta Müller schon früh wortfest machte, damals, als jedes Ding sein Wort hatte, wie ein verläßlicher Schatten, einer der nicht verschachert und nicht verfälscht werden kann. Doch die Schatten verrutschten, zwischen Wort und Ding öffnete sich ein Spalt. „Alles rund um schien sich nicht mehr sicher zu sein, ob es das, oder dies oder etwas ganz anderes war. Über kurz oder lang gab es nur noch nichtige Dinge mit wichtigen Schatten.“ In jedem Ding und jeder Tat lagerten sich die Rückstände einer Herrschaft ab, deren Willkür alles verletzte: vom Fahrradfahren zum Haareschneiden zum Parfümschnuppern zum Lesen einer Nachricht in einer Schale an einem ungewohnten, einem beängstigend verrückten Platz. Die Staatssicherheit läßt nichts aus, sie läßt sich nichts entgehen. Die Staatssicherheit würde erst zur Ruhe kommen, wenn jeder Mensch ein Zuträger und jedes Ding ein Instrument geworden ist. Dergestalt sind die giftigen Hinterlassenschaften, von beharrlicher Halbwertszeit, dem ganzen Land ebenso aufgebürdet wie dem Einzelnen, auch wenn er sich von dannen, nach drüben, aus dem Staub machte.

Unter solcher Herrschaft ist jedes Ding ein Unverläßliches. In der allumfassenden Durchdringung offenbart sich das Totalitäre der Diktatur. Es war somit irrelevant, welches Ding Herta Müller aufhob und unter das grelle Licht ihrer Sprache hielt — durch den Akt allein machte sie sich verdächtig. Und in ihren Texten erhärtet sich dieser Verdacht (wie zur Bestätigung der paranoiden Unterstellungen) zur Poesie, und in dieser Verwandlung wird sichtbar, daß in menschenverachtenden Systemen wahre Literatur nur im bedingungslosen Widerstand entstehen kann. Und als Umkehrschluß, daß die Verteidigung der eigenen Sprache ein politischer Akt von höchster Zivilcourage ist.

Doch das allein reicht nicht aus. In den letzten Ritzen der Privatsphäre finden sich Sedimente ungesichteter Erinnerung. Schon in einem der frühen Bücher, Der Mensch ist ein großer Fasan auf der Welt, wird erwähnt: „Windischs Frau war fünf Jahre lang in Rußland gewesen. (…) Auf den Bergen war noch ein Gebirge aus Wolken und wehendem Schnee. Auf dem Lastauto brannte der Frost. Vor der Grube stiegen nicht alle ab. Jeden Morgen blieben Männer und Frauen auf den Bänken sitzen. Sie saßen mit offenen Augen. Sie ließen alle an sich vorbei. Sie waren erfroren. Sie saßen im Jenseits.“    

Es ist nicht leicht, sich eines anderen Menschen Grauen anzunehmen. Man hat ja, auch als Autor, alle Hände voll zu tun, das selbst Erlittene zu verarbeiten. Um wie viel schwerer ist es, einem fremden Leid gerecht zu werden. Und wenn dieses Leid einem anvertraut wurde, in die Obhut gegeben, kann die Aufgabe einem Angst machen. Herta Müller hat trotzdem nachgefragt, ist der Deportation nachgereist, hat sich Unfaßbarem genähert, dem unvergänglichen Hunger, dem ständigen Pochen des Todes an der Schläfe. Das ist mutig, wie sehr können vielleicht nur jene erahnen, die ähnliches versucht haben. Sie hat sich durch die Angst hindurchgeschrieben, sie hat einen glaubwürdigen Ton der Bezeugung gefunden und dadurch den Erniedrigten, den Ermordeten zum ersten Mal Gehör verschafft. Das ist viel, so viel, beim Lesen stocken einem immer wieder die Augen. Und verbrennen sich in eigene Notizen, eigene Obsessionen. Zwischen Rumänien und Bulgarien fließt die Donau, darin liegt die Insel Persin, darauf befand sich eines der schlimmsten aller Arbeitslager: Belene. Auch dort zerbiß der Frost die Eingeweide, auch dort tappten die Häftlinge in die Hungerfalle, auch dort fraß der Hungerengel das Hirn. Das Universelle war verortet.

Das Wasser fließt weiter, zur Mündung, zum Donauschwarzmeerkanal, berüchtigt als ‘der Kanal’, von Stalin initiiert, von Ceausescu eröffnet. „Vom Kanal kehrte man nicht zurück. Wer trotzdem wiederkam, war ein wandelnder Leichnam. Vergreist und ruiniert, für keine Liebe auf der Welt mehr zu gebrauchen.“

Herta Müller stammt aus dem Osten Europas, aus der Region der größten Vernichtungen und Vertreibungen des 20. Jahrhunderts. Ob unter Nazis oder Stalinisten, im Osten des Kontinents gab es mehr Opfer als anderswo, im Osten wurde jede Gemeinschaft irgendwann einmal Opfer, abgesehen von den Eliten der Nomenklatura und der roten Mafia, und selbst deren Reihen lichteten sich einige Male gewaltig. Im Osten sind viele Opferzahlen unbekannt. Im Osten fallen Erinnerung und Geschichtsschreibung weiterhin auseinander. Kein Überraschung, daß der Ausgang der Geschichte seit 1989 von vielen mißtrauisch beäugt wird. Die Legende vom klaren Bruch wird zahnlos belächelt. Die Zeitlinien der jüngsten Geschichte verschlingen sich zu verkrüppelten Fragezeichen. Die gealterten Mörder pflücken Pflaumen in ihren Sommergärten. Dagegen steht nur das gemahnende Wort.

Wieso ist Herta Müller so unerbittlich, hat manch ein Kritiker gefragt. Und Vergebung eingefordert. Zumindest Nachsicht. Es sei doch an der Zeit. Doch Vergebung, das wird oft übersehen, ist eine beliebte rhetorische Strategie der Schuldigen. Laßt das Vergangene ruhen, beschwören meist jene, die im Vergangenen ihre Leichen verbuddelt wissen. Vor einigen Jahren organisierte die Friedrich-Ebert-Stiftung eine Konferenz in Sofia, um die Gräben zwischen Staatslinken und geknechteten Linken zu überbrücken. Der damalige Premierminister Jean Widenow, Sohn eines ehemaligen Politbüromitglieds, eröffnete die Konferenz, der Parteichef Georgi Parvanow, heute Präsident des Landes, führte den Vorsitz. Er appellierte an die ehemaligen politischen Häftlinge, man solle doch nun zueinander finden. Der Führer der Sozialdemokraten, ein Überlegender des bulgarischen Gulags, forderte, zunächst jener Genossen zu gedenken, die von den Kommunisten ermordet wurden. Der zukünftige Präsident erwiderte:

— Damit Sie sehen, wie sehr sich unsere Partei geändert hat, schlage ich vor, daß wir gemeinsam zu den Gräbern der Getöteten gehen und dort Kränze niederlegen. Aber auch wir hatten Opfer zu beklagen. Sind Sie einverstanden, daß wir danach zu unseren Gräbern gehen.

Ein weiterer alter Mann, ein Anarchist, meldete sich im Saal zu Wort:

— Diese Vereinbarung ist für uns nicht günstig.

— Wieso?

— Weil Sie den Kranztausch mit den Faschisten machen müssen, denn die haben ihre Leute umgebracht. Doch viel schwerer wiegt die Frage: auf welchen Gräbern wollen Sie die Kränze niederlegen? Die Gräber unserer Toten existieren nicht, denn ihre Leichen sind von den Schweinen auf Belene aufgefressen worden. Damit es gerecht zugeht, müßten wir Sie an die Wand stellen, dann können wir mit ihren Kindern Versöhnung feiern.

Im Saal wurde es still, für einige Augenblicke, dann brach das Streitgewitter herein. Der alte Mann hatte den wunden Punkt getroffen. Versöhnung ist kein Allheilmittel. Es gibt Zeiten, in denen allein dem unversöhnlichen Blick zu trauen ist. “Über dem Wohnblock”, heisst es in Der Fuchs war damals schon der Jäger, “steht eine Wolke, weiß und aufgewühlt. Greise, die im Sommer sterben, bleiben eine Weile zwischen Bett und Grab über der Stadt.”

Das massenhafte Leid früherer Jahrzehnte provoziert verwirrende Debatten über Gedächtnis. Wie wir in Europa mit der Vergangenheit umgehen, ist Prüfstein für eine angestrebte gesamteuropäische Ethik, für ein Zusammenwachsen der Schicksale, von dem wir heute, da in Rußland der Stalinismus romantisiert wird und die verbrecherische DNA der Eliten in manchen neuen EU-Mitgliedsländern selbst vom einstigen Westen ignoriert wird, meilenweit entfernt sind. Es geht nicht nur um eine metaphysische Gerechtigkeit, sondern um eine menschenwürdige Gesellschaft. Denn in jenen Ländern Osteuropas, in denen die Vergangenheit kaum ausgeleuchtet worden ist, in denen Akten und Erinnerungen unter Verschluß gehalten werden, sind die wirtschaftlich-politischen Verhältnisse in besonderem Maße mafiös durchtränkt. Indem Autoren wie Herta Müller das Totgeschwiegene in Erzählung aufgehen lassen, wecken sie unseren Widerwillen gegen die Zumutungen gegenwärtiger Gewalt und Macht. Die Würde des Menschen ist unantastbar, behauptet unser Grundgesetz. Doch diese Würde atrophiert, wenn eine diskriminierende Vergangenheitspolitik herrscht, wenn die Einflußreichen von heute mit den Tätern von gestern kollaborieren. Dagegen kann sich und muß sich Literatur auflehnen. Dagegen schreibt Herta Müller an, mit der Beharrlichkeit eines Schmieds beim Dengeln. Dafür gebühren ihr dieser Preis und mein höchster Respekt. 

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