Franz-Werfel-Menschenrechtspreis 2007

Milan Horáček Mitglied des Europäischen Parlaments

Laudatio

Anrede,

es freut mich sehr, heute an dieser Stelle einen wunderbaren Menschen für sein Leben und seine Arbeit für Demokratie und Menschenrechte würdigen zu dürfen. Die Frankfurter Paulskirche ist für Dich kein unbekannter Ort. Bereits 1991 waren wir hier versammelt, als Dir der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels überreicht wurde.

Die Paulskirche ist ein wichtiges Symbol für die Freiheit und gilt als „Wiege der deutschen Demokratie“. Sie ist der Geburtsort der ersten demokratischen Verfassung Deutschlands. Der Geist von Frankfurt geriet trotz der grausamsten Phasen der deutschen Geschichte glücklicherweise nie ganz in Vergessenheit. Besonders die damals formulierten Grundrechte fanden Eingang in die Weimarer Verfassung und das Grundgesetz von 1949. Kaum ein anderer Ort ist besser geeignet für die Verleihung des Franz-Werfel-Menschenrechtspreises, der besonderes Engagement für die Würde und Rechte der Opfer von Verfolgung, Vertreibung, Deportation oder Völkermord auszeichnet. Ich danke daher der Stadt Frankfurt sehr, in der ich lange als Bürger gelebt habe und als Stadtverordneter tätig war, dass sie die Preisverleihung in der Paulskirche möglich gemacht hat.

Das Zentrum gegen Vertreibungen hat in den vergangenen Jahren an dieser Stelle Vorreiter für die Aufarbeitung und Aussöhnung mit dem Franz-Werfel- Menschenrechtspreis geehrt:

Prof. Dr. Mihran Dabag für seinen Beitrag zur Genozidforschung und der Armenierverfolgung,

Věra Vitová, Petr Kulíšek und Jan Piňos, die sich gemeinsam für das "Kreuz der Versöhnung" in Teplice nad Metuji / Wekelsdorf engagiert und damit ein wichtiges Zeichen des Dialogs zwischen Deutschen und Tschechen gesetzt haben,

und Bischof Dr. Franjo Komarica, der in Banja Luka die Vertreibung fast aller katholischer Kroaten miterleben musste und dennoch für einen Ausgleich zwischen den Volksgruppen eintrat. In diesem Jahr wird das lebenslange Wirken von György Konrád gewürdigt.

In seinen literarischen Werken hat sich György Konrád immer wieder mit dem Thema Vertreibung auseinandergesetzt. Er hat sich dabei mit dem Schicksal seiner eigenen Familie befasst, er hat sich vor allem aber immer wieder für alle Opfer stark gemacht. Anlässlich der Eröffnung der Ausstellung "Erzwungene

Wege - Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts" sagte er im vergangenen Jahr in Berlin: "Die gewaltsame Trennung des Menschen von seinem Wohnort ist halber Mord. Unser Recht auf den Ort, an dem wir geboren worden sind, wo wir leben, ist ein fundamentales und unantastbares. Die Deportation von Menschen oder die mit Drohungen einhergehende Vertreibung von ihrem Wohnort ist ein international zu verfolgendes Verbrechen."

Sich gegen Vertreibungen einzusetzen, ist ein mühsamer Kampf, denn Vertriebene haben, wie man Neudeutsch sagen könnte, keine große Lobby. Es ist jedoch ein unverzichtbarer Kampf für ein elementares Menschenrecht, das Recht eines Jeden

noch einmal Konrád - "auf jenes Territorium, jene Gegend, jene Siedlung, wo er lebt, wo er gelebt hat, wo seine Vorfahren gelebt haben."

Demokratische Gesellschaften suchen keine inneren Feinde, keine Sündenböcke, sie gestalten das Zusammenleben verschiedener Ethnien friedlich und lösen Konflikte gemeinsam. Vertreibungen sind eine Kapitulation vor den eigenen Problemen, sie sind Folge des totalitären Anspruchs einer Mehrheit - oder auch einer Minderheit - zu entscheiden, wer erwünscht ist und wer nicht. Der entstehende Schaden trifft nicht nur die Vertriebenen, sondern auch die eigenen Bürger. Selbst Jahrzehnte später fällt es manchen Nationen schwer, ihre Schuld einzugestehen, sie sind verkrampft. In der Türkei steht die öffentliche Anerkennung der Armenierverfolgung, die Franz Werfel in seinem Roman "Die vierzig Tage des Musa Dagh" auf eindringliche Weise beschrieben hat, noch heute als Beleidigung des Türkentums unter Strafe. Auch die Ängste und Komplexe in Polen sind eine Folge des Umganges mit der eigenen Geschichte. Die Aufarbeitung und Anerkennung von Verantwortung sind ein wichtiger Befreiungsschlag und Grundlage für eine mögliche Versöhnung.

György Konrád hat das erkannt und einen sehr wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass Ungarn in diesem Bereich deutlich weiter ist als manch andere Staaten. Die Nationalversammlung hat sich bereits 1990 bei den vertriebenen Deutschen entschuldigt und Entschädigungen beschlossen. Auch wenn ökonomische Wiedergutmachungen nicht überall realistisch sind und Unrecht nicht ungeschehen gemacht werden kann, ist es eine moralische Pflicht, dieses anzuerkennen und den Opfern die Hand zu reichen. Wie die ungarische Parlamentspräsidentin, Frau Dr. Katalin Szili, die die Vertreibungsdekrete als „Dokumente der Schande" bezeichnete, weil es keine Kollektivschuld gebe, und Lázló Sólyom, der anlässlich der Eröffnung des Denkmals für die vertriebenen Ungarndeutschen in Budaörs erklärte: "Als Staatspräsident entschuldige ich mich bei den vertriebenen Schwaben und ihren Familien für das widerfahrene Unrecht."

Das 20. Jahrhundert war von grauenhaften Verbrechen gegen die Menschlichkeit gezeichnet. Das europäische Judentum wurde durch den Nationalsozialismus fast vollständig vernichtet. Es gab Kolonialismus, Faschismus und Kommunismus, die zu totalitärer Barberei in vielen Teilen der Erde führten. Die beiden Weltkriege und regionale Konflikte forderten Millionen Todesopfer und lösten Vertreibungen und Genozide aus: denken wir an die Albaner, Armenier, Bosniaken, Deutschen, Palästinenser, Sinti und Roma sowie unzählige weitere, die ermordet oder entwurzelt wurden - eine vollständige Aufzählung wäre viel zu lang. Die Tragödien in Afrika, die Lage in Darfur - zeigen, dass auch im neuen Jahrtausend so genannte "ethnische Säuberungen" leider noch nicht der Vergangenheit angehören. Ein beschönigender Begriff, den György Konrád abscheulich findet und den er so hinterfragt: "Ethnische Säuberung? Schmutz wäre, wer vertrieben, wer verschleppt wird? Wünschenswert wäre, ihn verschwinden zu lassen? [...] Warum nicht Deportation? Oder sollte etwa der Abtransport meiner Verwandten und Schulkameraden in die Gaskammer gleichfalls eine ethnische Säuberung gewesen sein? Weil die ethnische "Sauberkeit" ein Wert wäre? [...]"

Das Leben von György wurde geprägt von zwei Diktaturen, dem dennoch nie verlorenen Wunsch nach Freiheit und Gerechtigkeit und der lang ersehnten europäischen Integration seiner Heimat.

Geboren im April 1933 im ostungarischen Berettyóújfalu nahe Debrecen, bekommt er die Auswirkungen der Machtergreifung Hitlers in Deutschland - er selbst hat sein Geburtsjahr oft mit diesem Ereignis in Zusammenhang gebracht - bereits früh in seiner Kindheit zu spüren. Als Sohn einer jüdischen, bürgerlichen Familie muss er mit ansehen, wie im Dorf jüdische Mitbürger von den Pfeilkreuzlern, den ungarischen Faschisten, erniedrigt und getötet werden. Mit der deutschen Besetzung ab März 1944 verschlimmert sich die Lage erheblich, auch in Ungarn beginnen die Massendeportationen. Die meisten nach Auschwitz. Hunderttausende sind betroffen, nur wenige kehren zurück. György muss nach Budapest fliehen, es ist seine erste Vertreibung. Nach der Befreiung kehrt er in seinen Heimatort zurück, wo es fast keine Juden mehr gibt.

Kaum dem Tod entkommen, wird der Familie ihre soziale, ihre bürgerliche Herkunft zum Verhängnis. Der stalinistisch geführte Staat beschlagnahmt Ende der 40er Jahre den gesamten Besitz, György wird erneut aus seinem Elternhaus vertrieben. So wird er schnell zum Opfer Jaltas, jenes Abkommens der Großmächte, mit dem nicht nur das Schicksal Deutschlands besiegelt, sondern auch die Spaltung unseres Kontinents eingeleitet wird. Zurecht hast Du, lieber György, darin immer den großen Stolperstein für den Frieden in Europa gesehen.

1956 kommt es zu einer Zäsur: der Ungarische Volksaufstand wird gewaltsam niedergeschlagen - und mit ihm die Hoffnungen auf demokratische Reformen. Mit einer Maschinenpistole bewaffnet, möchte Konrád helfen, die Universität gegen die Sowjetarmee zu verteidigen. Er schießt letztlich aber doch nicht - seine wirkungsvollste Waffe wird das Wort. Die Nachwirkungen der Erhebung werden Konrád in den Folgejahren besonders deutlich, wie er 50 Jahre später rückblickend in einem Interview sagte: "Es war eine brutale Niederlage mit Vergeltungen. Wenn ich bei meiner Tätigkeit als Sozialarbeiter zu Familien kam und fragte, wo ist der Vater, dann wurde oft gesagt: Der wurde hingerichtet - oder er ist weggegangen.

Es war ein großer Schlag, fast ein Gehirnschlag."

Sein Romandebüt macht György Konrád 1969, in Ungarn und kurze Zeit später auch im Ausland bekannt. "Der Besucher" greift seine Erfahrungen als Sozialarbeiter auf und zeichnet ein wenig idyllisches Bild vom Sozialismus mit Verlierern, Verwahrlosten, Ausgestoßenen und seelisch Kranken. Es ist der Auftakt zu einer Reihe von kritischen Werken, die die Führung in Erklärungsnöte bringen. In der Nähe von Budapest richtet Konrád in einem leer stehenden Glöcknerhaus einen Treffpunkt für freidenkende Autoren ein. Auf dem Dachboden dieser "Dissidenten-Datsche" finden 1945 vertriebene Donauschwaben, die häufiger in der Gemeinde zu Gast sind, Abhöranlagen. György Dalos berichtete dazu: "Konrád reagierte gelassen auf das erhöhte Interesse der Behörden. Er arbeitete ruhig an seinem Roman 'Der Komplize' weiter. [...] Und ich war heimlich stolz darauf, eine Wanze mit dem Staatsfeind Nummer Eins der Volksrepublik Ungarn teilen zu können."

Konrád steht bei der Staatssicherheit längst auf der Liste der nächsten Angeklagten. Mit seiner Ruhe und Gelassenheit setzt er jedoch auf subtilen Protest und verzichtet darauf, die Autoritäten offen herauszufordern, wodurch es den Behörden schwer fällt, ihn zu greifen. Ungarn versucht in jener Zeit in besonderer Weise, nach außen einen rechtsstaatlichen Schein zu bewahren. Im Herbst 1974 wird er zusammen mit Iván Szelényi dann doch verhaftet, ihre Manuskripte zum Essay "Die Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht" werden konfisziert. Konrád sagte mit seinem typischen ironischen Unterton auf der Biennale 1977 dazu: "Vor drei Jahren wurde mir [...] eine große Ehre zuteil: an die hundert Mitarbeiter der politischen Polizei versuchten zu verhindern, dass eine zusammen mit einem Freund verfasste Abhandlung das Tageslicht erblickte. Eine knappe Woche sahen wir beide auch nicht viel vom Tageslicht, aber diese kleine Lektion war sehr nützlich."

Ende der 70er Jahre bis 1988 darf Konrád in Ungarn nicht mehr publizieren. Stark zensiert erscheint 1977 als letzter Roman "Der Stadtgründer". Die vielen Auslassungen sind nur über illegale Kanäle erhältlich. „Die Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht" kann im folgenden Jahr in Ungarn nicht mehr herauskommen. Bei der Vorstellung des Buches hier in Frankfurt begegne ich Dir zum ersten Mal. In Deiner Heimat wirft man Dir vor, ein Verräter der Nation zu sein. Die Anfeindungen halten Dich aber nicht davon ab, weiter zu arbeiten und Deine Freiheit auf eigene Weise zu praktizieren. Oder um es mit den Worten Václav Havels aus seinem Essay "Versuch, in der Wahrheit zu leben" auszudrücken: "Die Dissidenten' fühlen sich nicht als Abtrünnige, Treulose, weil sie nämlich niemandem untreu geworden sind, eher umgekehrt: Sie sind sich selbst mehr treu geworden."

Die ungarische Führung versucht, kritische Autorenstimmen auf andere Weise als die meisten osteuropäischen Staaten zum Schweigen zu bringen. Während Havel in der CSSR und Adam Michnik in Polen für ihren Einsatz für die Menschenrechte viele Jahre weggesperrt werden, versucht man, Konrád mit einer geistigen Vertreibung ruhig zu stellen, ohne dabei einen Märtyrer zu schaffen. Er erhält Ausreisegenehmigungen, um im westlichen Ausland zu publizieren und sich an Diskussionen zu beteiligen. Das Konzept geht nicht auf, er bleibt für die Ungarn hörbar. Seine Werke werden von Exilverlagen gedruckt und in sein Heimatland geschmuggelt (auch von mir). Außerdem sind er und seine Texte Bestandteil der ungarischen Programme des Senders Freies Europa. Über die Jahre des politischen Exils treffen wir uns immer wieder und arbeiten zusammen.

Besonders in den 80er Jahren gewinnt die Mitteleuropa-Diskussion an Bedeutung. Viele Intellektuelle melden sich mit der Hoffnung zu Wort, Lösungen für den Ost- West-Konflikt zu finden: Adam Michnik und Hans Magnus Enzensberger, Václav Havel und Milan Kundera, der Mitteleuropa als den von den Sowjets gekidnappten Teil des Westens bezeichnet oder als den Teil Europas definiert, "der geographisch in der Mitte, kulturell im Westen und politisch im Osten liegt". György Konrád leistet mit seinem Buch 'Antipolitik - Mitteleuropäische Meditationen" einen wichtigen Beitrag zur Debatte.

Er fordert einen Kompromiss zwischen Kommunisten und Nichtkommunisten, zwischen Ost und West, eine Emanzipation von der Vormundschaft der beiden Weltmächte. Mitteleuropa solle eine neutrale Rolle zukommen mit dem Ziel, zu Moskau und Washington gleichberechtigte Beziehungen aufzubauen. Dabei misst er den Menschen durch den Antipolitik-Ansatz eine große zivilgesellschaftliche Bedeutung bei: "Antipolitik ist Politisieren der Menschen, die keine Politiker werden, und keinen Anteil an der Macht übernehmen wollen. Der Antipolitiker ist in seinem Denken nicht 'politisch'. [...] Antipolitiker ist derjenige, der den Staat zu einer Abmagerungskur zwingen will und der sich nicht geniert, deshalb als Staatsfeind angesehen zu werden."

Mitte der 80er Jahre kommt es auch zur Vernetzung der Friedensund Bürgerinitiativen aus Ost und West, die mit einer doppelten Gesellschaftskritik Wachstumsdogmen im Westen und politische Knechtschaft im Osten anprangern. Sie wählen die KSZE, an deren Verträge auch die sozialistischen Regierungen gebunden sind, als Appellationsinstanz. Das Memorandum „Das Helsinki- Abkommen mit wirklichem Leben erfüllen« von 1986 unterzeichnen namhafte Aktivisten, unter vielen anderen auch György Konrad und das Gründungsmitglied der Grünen Petra Kelly.

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Zusammenbruch des sowjetischen Systems entwickelt sich Ungarn zu einer Demokratie. Man lernt, Politik zu machen, aus Antipolitikern werden Politiker. György Konrád bleibt im Gegensatz zu anderen Dissidenten der Antipolitiker, der kein politisches Amt begleiten möchte, sich aber einmischt, wenn er es für angebracht hält - ganz nach Heinrich Bölls Aufruf "Einmischung erwünscht". Auch wenn er dafür angefeindet wird, beispielsweise von nationalistischen oder antisemitischen Kräften. Von 1990 bis 1993 ist er internationaler P.E.N.-Präsident und 1997 bis 2003 der erste ausländische Präsident der Akademie der Künste in Berlin. Hier versucht er unter anderem, über den Balkan-Rundtisch einen Dialog der unterschiedlichen Nationalitäten in Gang zu setzen. Für seinen geistigen Einsatz zur Überwindung der europäischen Spaltung und zur Aussöhnung wird György Konrád 2001 mit dem Internationalen Karlspreis zu Aachen bedacht.

Nach einem Jahrhundert, das von Unrecht geprägt wurde, ist unser Kontinent bis auf wenige Ausnahmen frei. Mit dem Ende des Blocksystems sind neue Nationalstaaten entstanden, leider nicht überall ohne Konflikte. Insgesamt gibt die Entwicklung aber Grund zur Hoffnung, auch wenn ich im Europaparlament spüre, dass der Weg zur europäischen Einigung teilweise mühsam ist. Die Europäische Union beruht auf der freiwilligen Entscheidung von Menschen unterschiedlicher politischer und kultureller Herkunft zu einem friedlichen Zusammenleben zum Vorteil aller. Es sollte uns gelingen, nationale Egoismen zu überwinden und zueinander ehrlich zu sein, aus der Vergangenheit zu lernen und uns gegenseitig Fehler einzugestehen, um gemeinsam in eine bessere Zukunft blicken zu können.

Ich danke Dir, lieber György, sehr für Deinen lebenslangen Beweis, dass es sich auch in schwierigen Lagen lohnt, sich für eine gerechtere Welt einzusetzen, in der wir alle in Frieden und Freiheit leben können und in der Kriege und Vertreibungen Vergangenheit sind.

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