Franz-Werfel-Menschenrechtspreis 2007

György Konrád, Schriftsteller. Preisträger des Franz-Werfel-Menschenrechtspreis 2007

Dankesrede

Gleich wer dort untern liegt

Der Raum ist die grundlegende Dimension menschlichen Lebens. Die meisten Erinnerungen sind an den Raum gebunden. Der Raum ist bewohnt: mit unserer Vergangenheit, unseren Angehörigen, Ahnen und Nachfahren. Eins und identisch ist der Mensch auch mit seinen unsichtbaren Wurzelfasern. Das verwickelte Beziehungssystem zwischen ihm und seiner Umwelt ist eine ökologische Wirklichkeit, die nur im Namen abstrakter Ideologien außer acht gelassen werden kann. Dort zu leben, wo er zu Hause ist, diesem Recht des Menschen kommt entscheidende Bedeutung zu. Unser Recht auf den Ort, wo wir geboren worden sind und wo wir leben, ist ein fundamentales und unantastbares. Den Menschen von seinem Wohnort zu trennen, heißt, ihn verstümmeln. Man kann den Menschen einsperren, und man kann ihn aussperren; beidem liegt ein Befehl zur Gewaltanwendung zugrunde, für dessen Beachtung bewaffnete Wachen sorgen.

Flexibilität, Überlebensfähigkeit, Anpassung und Überwindung sind menschliche Tugenden. Verlust aber kann nicht geleugnet werden; er kann ein Leben lang schmerzen. Deportation von Menschen oder deren mit Drohungen einhergehende Vertreibung von ihrem Wohnort sind ein international zu ahndendes Verbrechen. Setzt eine Herrschaft den Staat mit irgendeiner Nation, einem Volk, einer Rasse, Ethnie, Religion oder Klasse gleich, kommt es zu Diskrimination, Ächtung und Rechtsverletzungen all denen gegenüber, die aus der dominierenden Kategorie herausfallen. Findet die Idee des homogenen Nationalstaats als Norm Verbreitung, dann kann irgendeine Abstraktion (Nation, Religion, Klasse, Ideologie) Deportationen anstiften. Ethnische Säuberungen wollen eine frisch zu besiedelnde leere Region.

Eine wiederkehrende Art, wie nicht erwünschte Bevölkerungsgruppen entfernt werden: durch Massenmord Schrecken verbreiten, damit die Menschen Hals über Kopf Haus und Hof verlassen. Durch Niedermetzeln Hunderter können Zehntausende vertrieben werden. Der Begriff nationaler Selbstbestimmung schließt die Fiktion ein, daß jeder nationalen Gemeinschaft ein Staat zusteht. Noch dazu als ausschließliches Recht. Mittel- und Osteuropa, den Balkan mit einbegriffen, ist eine Region nationaler, ethnischer und religiöser Vermischung. Jede Grenzverschiebung verursacht hier Verletzungen und schneidet in etwas Lebendiges; Grenzen können hier nur als Schadensbegrenzung ein sinnvolles Ziel sein.

Die modernen Staaten des zwanzigsten Jahrhunderts und ihre Führer meinten, sie dürften über den einzelnen und die Völker verfügen, dürften sie umsiedeln, zur Arbeit, zum Töten und Getötetwerden verpflichten. Das Selbstbestimmungsrecht der menschlichen Person ist ein höherwertiges Prinzip als das Selbstbestimmungsrecht der Nationen. Welche Freiheit ist mehr wert? Die der Regierungen gegenüber den Bürgern oder die der Bürger gegenüber der Regierung? Die Umsetzung von Völkern, die Deportation, gehört, einhergehend mit dem Genuß patriotischen Ausplünderns, zu den bizarren Leidenschaften omnipotenter Führer. Ethnische Säuberung?

Scheußlich allein schon das Wort. Schmutz der Vertriebene? Unflat der andere? Vielleicht gar die benachbarte Ethnie? Warum nicht deportieren? Sollte etwa der Abtransport meiner Cousinen, Cousins und Schulkameraden in die Gaskammer gleichfalls eine ethnische Säuberung gewesen sein? Die europäischen Juden sind von der größten Vertreibung heimgesucht worden. Zu einem Anteil von zirka sechzig bis siebzig Prozent hat sie zu ihrer Vernichtung geführt. Ein brauchbarer Parameter für das Ausmaß des Verbrechens: Wieviel Prozent der Deportierten sind getötet worden, und wie viele sind - zum Beispiel auf den Todesmärschen - infolge der physischen Belastungen der Vertreibung gestorben? Für kollektive Bestrafungen und Verfolgungen ganzer Gemeinschaften sind keinerlei politische, nationale und religiöse Rechtfertigungen möglich. Eine Bestrafung von Kindern für die eventuellen Vergehen ihrer Eltern ist unzulässig. Selbst die Söhne und Töchter von Massenmördern sind unschuldig. Die nazistischen Deportationen haben die Aussiedlung der Ungarndeutschen nicht gerechtfertigt. Die Tat ist ähnlich. Nur Täter und Opfer sind andere. Nicht einmal unbedingt. Das administrative Personal, das in Ungarn die Aussiedlung der schwäbischen, sächsischen und deutschsprachigen ungarischen Staatsbürger organisierte, war mehrheitlich mit denen identisch, die schon die Deportation der Juden abgewickelt hatten. Das Reiseziel der jüdischen Deportierten waren das Konzentrationslager und mit großer - siebenundsechzigprozentiger - Wahrscheinlichkeit der Tod. Österreich und Deutschland das Reiseziel der Volksdeutschen. Obwohl unterwegs viele starben und ihre Aufnahme nicht immer herzergreifend war. Wenn man, alles zurücklassend, mit einem Koffer in der Hand gehen muß, gleich welche Angaben im Personalausweis eines Menschen stehen mögen, dann erleben wir eine ähnliche Erniedrigung. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind aus Osteuropa vierzehn Millionen Volksdeutsche nach dem Westen ausgesiedelt worden. Zwei Millionen von ihnen sind auf der Fahrt gestorben.

In den siebziger Jahren mietete ich in einem schönen kleinen Dorf in der Umgebung von Buda ein Haus. Vor dem Krieg waren hier annähernd die Hälfte der Bevölkerung Deutsche. Wer sich in der Volkszählung von 1941 zur deutschen Muttersprache bekannte, der wurde nach 1945 ausgesiedelt. Ein Menschenalter später suchten sie oder ihre Kinder dieses kleine Dorf auf. Sie kamen mit guten Autos, waren elegant gekleidet und brachten den armen Verwandten kostbare Geschenke. Gäste und Gastgeber sannen wechselseitig darüber nach, wer wohl mehr Grund haben sollte, den anderen zu bedauern oder wer bereit sei, mit dem anderen zu tauschen. In ihren Gesprächen damals tauchte auch der Gedanke auf, daß diejenigen gut gefahren seien, die man vertrieben habe, und nicht diejenigen, die hatten bleiben dürfen. Auf einen Schlag waren Millionen von Deutschen von Osteuropa nach Westeuropa hinübergestoßen worden, aus der Region der Unterdrückten auf das Spielfeld der Demokratien. Durch die Deportation sind die aussiedelnden Länder ärmer geworden, die aufnehmenden dank den emsigen Ankömmlingen reicher. Meines Wissens erheben die Nachkommen der Vertriebenen und die deutsche politische Klasse weder einen Anspruch auf ein Rücksiedlungsrecht noch auf materielle Entschädigung. Sie bestehen lediglich auf der Erklärung dessen, daß die Aussiedlung der Volksdeutschen, die Anwendung des Prinzips der Kollektivschuld, kein korrektes und menschenwürdiges Handeln gewesen sei.

Ich halte es für beruhigend, daß Dr. József Antall, der erste demokratisch gewählte ungarische Ministerpräsident nach der Wende, diesen Standpunkt bereits in der Folge von 1990 eingenommen hat. Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, so glaube ich, daß in den Fußstapfen Vaclav Havels auch die tschechische und polnische Regierung im Rahmen einer entsprechenden wechselseitigen Erklärung dazu bereit sein werden. Vertreibungen sind meist irreversibel. Wer irgendein Gut eines Vertriebenen in Besitz genommen hat, der kann inzwischen auch schon ein Recht daran geltend machen; er hat es genutzt, mehr oder weniger darauf acht gegeben, sich daran gewöhnt. Auch ein Rückgängigmachen der Aneignungen wäre ein Akt der Gewalt. Ich kenne die Resignation des einstigen Bewohners, wenn er sein ehemaliges Haus aufsucht. Er nimmt es in Augenschein, grüßt und geht. Eine klügere Reaktion fällt ihm nicht ein. Auch in der jüngsten Geschichte unserer Region hat es sich erwiesen: Wann immer ein neuer Nationalstaat ohne Garantien für den Minderheitenschutz anerkannt worden ist, wurden dadurch die Voraussetzungen und die Maschinerie zur Vertreibung und Deportation mehrerer hunderttausend Menschen geschaffen. Das Anerkennen eines Staats ist eine edle Geste, doch bringt es frevlerisches Treiben in Hülle und Fülle mit sich.

Mehrsprachigkeit ist möglich. Sie ist ein häufiges Phänomen. Der Staat muß nicht bestimmen wollen, welche Sprache die Kinder zu sprechen haben. Warum auch sollte er eine einsprachige Ausschließlichkeit anstreben? Für die auf seinem Territorium lebenden Kinder muß er neben der Mehrheitssprache als Lingua franca auch die Vermittlung der Minderheitensprachen und -kulturen gewährleisten. Auch deshalb ist unser Europäertum ein sinnvolles Projekt, denn die Union funktioniert als eine geeignete Sicherheit gegen jedwede Deportation. Krieg und Moral des Anstands sind von vornherein miteinander unvereinbar. Getötet haben beide Seiten viel. Die eine mehr als die andere. Jawohl, es zählt, wer den Krieg gewollt und wer ihn angefangen hat. Die Mehrheit der Deutschen billigte ihn anfangs zusammen mit den damit einhergehenden Sondermaßnahmen, so dem Verschwindenlassen der Juden. Sie bedauerten nicht, daß ihre Mitbürger abgeholt wurden, sie schmähten ihre Marschkolonnen, verlachten sie und halfen bei der Jagd auf Entflohene. Aktiv boshaft war die Mehrheit nicht, doch unternommen gegen das Unrecht hat sie nichts, und daß sie mit den Geschehnissen nicht einverstanden war, dem hat sie auch keinen Ausdruck verliehen. Die Protestierenden registriert die Geschichte namentlich. Fast immer werden dieselben erwähnt. Was darauf hindeutet, daß es nicht viele gewesen sind. Auf sowjetischem Gebiet haben die Deutschen viele Mitglieder der kommunistischen Partei erschossen, auf deutschem Territorium haben die Sowjets viele Mitglieder der Nazipartei erschossen. Beschuldigungen können Beschuldigungen widerfahren. Schwierig, die Brutalität der Geschichte einer moralischen Würdigung zu unterziehen. Die Lauteren unter den Minderheitendeutschen beteuerten, zum Mutterland gehören zu wollen. Sollen sie doch, sagten die osteuropäischen Regierungen den deutschen Minderheiten, nachdem diese eine Niederlage erlitten hatten, und vertrieben sie. Auf Kosten des jeweils anderen stabilisierten sich die europäischen Nationalstaaten, homogenisierten ihre Bevölkerung. Die Inkompatibilität von Minderheiten und Mehrheiten ist in den Nationalstaaten eine ideologische Hysterie gewesen, die verheerende Folge des Fanatismus politischer Schriftsteller. Der Transfer, die Umsiedlung, der Abtransport von Volksgruppen, ist am Ende des Zweiten Weltkriegs auch im Sprachgebrauch der Westalliierten, der Demokratien, üblich geworden. Es verband sich damit die Hoffnung, daß gemeinsam mit den Nationalitäten auch die Nationalitätenkonflikte verschwinden würden.

Verbreitung fand diese Idee während des Krieges, als man sah, daß sich die Nationalitätenkonflikte derart erhitzt hatten, daß sie für genügend Zündstoff sorgten, um den Krieg atmosphärisch und ideologisch vorzubereiten.

Sechzig Jahre später macht es die Europäische Union dank ihren Schöpfern und der Geschichte möglich, daß du dort, wo du gerade bist, der sein kannst, der du bist. Das anvisierte Ziel einer Vereinigung der Volksbrüder und -schwestern ist zum Grund für verschiedenste Abschiebemaßnahmen geworden. Die nationalistisch ausgerichtete politische Öffentlichkeit erblickte in der ethnisch gemischten Bevölkerung eine Gefahr. Bei einem gemischten Wohnen könnte es zu Auseinandersetzungen, vielleicht sogar Pogromen kommen. Diese Anschauung verachtet den Zeitfaktor. Die Tatsache, daß jemandes Familie seit Jahrhunderten dort lebt, wo sie lebt, ist zu einem nebensächlichen und gewichtslosen Aspekt geworden. Die Regierungschefs der Obrigkeitsstaaten meinten, im Recht zu sein, wenn sie Zivilisten ebenso bewegten wie die Truppenkörper. Mit dem Volk, nicht nur mit dem besiegten, sondern auch mit dem eigenen, dem siegreichen, tun sie, was sie wollen. Eigentlich ist die Bevölkerung eine Armee. Und die fremde Nationalität ist eine fünfte Kolonne. Auch die alten Frauen und die Säuglinge. Auf der anderen Seite aber einzig Feinde. Sie dürfen vertrieben, ausgeraubt und gelegentlich auch getötet werden. Der totale Krieg, uns vollkommen ins Gefecht zu stürzen, ins Abenteuer, ist ein deutscher Begriff. Der Kult des Dienens und die Führervergötterung sind ein und dasselbe. Es existieren zwei Sichtweisen: die von denen, die aussiedeln, und die von denen, die ausgesiedelt werden. Die Alliierten wollten den Deutschen begreiflich machen, daß ihre frühere Strategie falsch war, katastrophal und tödlich. Zum Kriegsende hatte auch die deutsche Zivilbevölkerung unter den angelsächsischen Bombenteppichen zu leiden und in der Folge in der sowjetischen Besatzungszone unter gnadenloser Willkür und sexueller Gewalt. Deutsche Familien, die auf die eine oder andere Weise nicht von der Vertreibung betroffen gewesen wären, gibt es wenige. Nach dem Krieg nahmen die Deutschen diszipliniert zur Kenntnis, daß sie verloren hatten; das Schicksal nahmen sie mit apathisch wirkendem Fatalismus an und taten, was im Interesse des Überlebens getan werden konnte. Die deutschen Nachkriegsgenerationen haben aus dem Geschehenen gelernt, daß nationalstaatliche Großmannssucht zu Untergang und Tod führt. Dann kamen sie wieder auf die Beine und wurden erneut eine starke Nation. Doch mit ihrer nazistischen Vergangenheit kokettieren sie nicht, warten darauf, daß sie in Gesellschaft der freien Nationen dank ihrer sich allgemeiner Anerkennung erfreuenden Leistungen mit sich selbst zufrieden sein dürfen. Schriller Selbstmitleidrhetorik enthalten sie sich; sie sind um objektives Formulieren bemüht.

Am ehesten noch sind die Deutschen bestrebt, sich daran zu erinnern, daß Juden unter ihnen gelebt haben; sie haben Synagogen instandgesetzt, würdigen die Verdienste ihrer einstigen und gegenwärtigen jüdischen Mitbürger, und antisemitische Äußerungen gestatten sie sich nicht einmal in dem Maße wie die Bewohner anderer europäischer Demokratien. Sowohl die Deutschen als auch deren Nachbarn brauchen die Gelassenheit gerechten Selbstwertgefühls, wohnen doch zu beiden Seiten der Ostgrenzen Völker mit verworrenem Selbstbewußtsein, von denen im Rückblick auf die Vergangenheit kein einziges vor einem sie plagenden nationalen Gewissen Schutz findet. Die Deutschen wissen, daß ihr nationalsozialistischer Staat 1939 ohne besonderen Grund und ohne jegliches Recht Tschechien und Polen angegriffen hat, Nachbarnationen. Wodurch allein in letzterem Land der Tod von sechs Millionen polnischen Staatsbürgern verursacht worden ist.

Jeweils zur Hälfte der Tod von Christen und Juden. Die Erinnerung an einen Raubmord zu ertragen ist für keine Seite leicht. Gereizte Erklärungen belegen, daß die teils als Wiedergutmachung gewonnenen Gebiete eine irgendwie beunruhigende Errungenschaft sind. Mir selbst stelle ich die Frage, ob auch mich - als ungarischen Juden - der kollektive Groll, der den Krieg selbst in Friedenszeiten überlebt, in Versuchung gebracht hat. Müßte ich diese Frage mit Ja beantworten, so wäre ich darauf nicht stolz. Allerdings wäre ich auch damit nicht einverstanden, würden wir in keinerlei Sinn von kollektiver Verantwortung, Last und Aufgabe sprechen, die uns durch Geburt zufallen. Dadurch, daß wir von unseren Eltern irgendwo auf die Welt gesetzt worden sind, erben wir bereits den Ort, an dem wir leben, ebenso wie unseren Genbestand. Und zusammen mit dem Ort unsere gesamte Kultur; derart, daß auch wir selbst ein Erbe sind. Täuschen wir uns nicht selbst in dem Glauben, daß wir, freie und autonome Wesen, erst mit unserer Geburt begonnen hätten. Mit unserer Geburt erfahren wir eher nur eine Fortsetzung, klinken uns in eine lange Kette ein. Verantwortung erben wir ebenso wie unsere Sprache und geistigen Werte, wie unsere Vorurteile. Der heute geborene Säugling war schon ausführlich vorbereitet worden. Mit dem ersten Atemzug hat er jenes Päckchen bekommen, das für jeden Nachkommen Last und Belohnung ist; darin enthalten sind Glück und auch Leid der Vorfahren. Wie weitgehend er sich mit den Tugenden und Verbrechen seiner Nation identifizieren will, bleibt seiner Entscheidung überlassen. Soll er den Ahnen verzeihen? Aber wer ist er denn, daß er verzeihen soll? Schuldet er ihnen nicht besser Mitgefühl?

Die vertriebenen Deutschen reisen zum einstigen Wohnort ihrer Eltern, erwerben dort unter Umständen Immobilien, etwa ein ehemaliges schwäbisches Haus, und gründen vielleicht irgendein Unternehmen. Ihre Vorfahren haben zwar viel verloren, doch sie könnten dadurch, daß sie als verhältnismäßig wohlhabende und selbstsicher sich orientierende Westbürger herkommen, viel gewinnen. Der Verlust der Eltern mag unersetzlich sein, doch gelangen sie in eine Umgebung, der sie sich, wenn auch mit Verletzungen, relativ organisch anpassen können. Auch sie beruhigt es und erfüllt es mit heiterem Selbstwertgefühl, Teil der westlichen Welt geworden zu sein. Wie sehr wir uns doch als Individuen von unserer Nation, unserem Volk unterscheiden. Muß ich mich zu den Gefühlen, Ängsten und Phantasien jenes Volks, dem ich angehöre, bekennen? Muß ich auch seinen Zorn übernehmen? Empfinden wir die Leiden der vorangegangenen Generationen nach, können wir uns gründlich quälen. Die Kinder jeder Diktatur können entscheiden, ob sie ihre Väter zusammen mit deren Verbrechen lieben. Fortwährend rutschen wir zwischen unserem personalen Ich und unserem kollektiven Ich hin und her. Einmal bin ich lediglich ich und dann zusammen mit den anderen wir, mit denen wir ein sensibles, gemeinsames, plurales Ich bilden. Gedichtet haben wir uns selbst und unsere Feinde. Das in die Vergangenheit reichende Wir und das in die Vergangenheit reichende Sie sind gleichermaßen Mythen. Wer weiß schon, wann ich ich ich bin und wann wir? Europa haben wir als Schule unerzogener Völker geerbt, wo es noch keine leichte Aufgabe ist, sich gegenseitig einen Vorschuß an kollektivem Vertrauen zu gewähren und die alltäglichen Übungen zuvorkommender Empathie durchzuführen. Zu sagen, komm, mein lieber Freund, trinken wir zusammen ein Glas, stoßen wir an, es ist nichts geschehen, zumindest zwischen uns nicht, einfach ist das nicht. Auch die gemeinsame Verletzung ist ein gemeinsames kulturelles Vermögen. Widersetzen wir uns dem, daß man uns das Recht auf Traurigkeit wegen der gemeinsamen Verletzung streitig macht! Hernach wird auch der Augenblick kommen, daß wir uns anlachen. Was ist Sache der heute Lebenden?

Erinnerungen und Lebensläufe sammeln, die Entwicklung der Lebensschicksale verfolgen, wissen, wer unsere Vorfahren in der Familie oder im Haus gewesen sind, aus Biographien die nationale Geschichte lernen und vor den Friedhöfen das Haupt neigen, gleich wer dort unten liegt.

Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke

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