Franz-Werfel-Menschenrechtspreis 2003

Erika Steinbach MdB

Rede zur Verleihung des Franz-Werfel-Menschenrechtspreises am 29. Juni 2003 in der Frankfurter Paulskirche von Erika Steinbach MdB

Die Stiftung ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN (ZgV) verleiht heute erstmals ihren Franz-Werfel-Menschenrechtspreis. Nicht an irgendeinem Ort, sondern in der „Herberge deutscher Hoffnungen und der Schaubühne deutscher Tragik und Unvollkommenheit“, wie Theodor Heuss die Frankfurter Paulskirche charakterisierte.

Wir danken Ihnen, sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin Roth, und dem Magistrat der Stadt Frankfurt a.M., dass dieser edelste Raum zur Verleihung von Preisen ohne Umschweife zur Verfügung gestellt wurde.

Das ZgV gibt es als Stiftung seit dem 6. September 2000. Es wurde geboren aus der Erkenntnis der deutschen Heimatvertriebenen, dass es nötig ist, nicht im eigenen Leide, in persönlichen traumatischen Erinnerungen zu verharren, sondern ein Instrument zu schaffen, das dazu beiträgt, Vertreibungen und Genozid grundsätzlich als Mittel von Politik zu ächten. Theoretisch ist das im Völkerrecht schon lange der Fall. Menschenfeindliche Praxis setzt sich leider nur allzu oft darüber hinweg – bis zum heutigen Tage.

Der Stiftung sind vier gleichrangige Aufgaben gestellt, deren Kern immer die Menschenrechte sind:

Erstens:

  • In einem Gesamtüberblick soll in Berlin das Schicksal der mehr als 15 Millionen deutschen Deportations- und Vertreibungsopfer aus ganz Mittel-, Ost- und Südosteuropa mit ihrer Kultur und ihrer Siedlungsgeschichte erfahrbar werden. Sie hatten ihre Heimat in den baltischen Ländern, in Rumänien, Jugoslawien, Ungarn, Polen, Bulgarien, der früheren Sowjetunion und der Tschechoslowakei. Dort siedelten sie seit Jahrhunderten. Und sie kamen aus dem früheren Osten Deutschlands. Viele Tausende davon durchlitten Jahre von Zwangsarbeit und Lagerhaft. Fast 2,5 Millionen Kinder, Frauen und Männer haben die Torturen von Vertreibung, Folter, Zwangsarbeit oder monatelanger Vergewaltigung nicht überlebt. Mit diesem Schicksal dürfen die Überlebenden nicht allein gelassen werden. Es ist gesamtdeutsche Aufgabe.

Zweitens:

  • Wir wollen die Veränderungen Deutschlands durch die Integration Millionen entwurzelter Landsleute mit den Auswirkungen auf alle Lebensbereiche ausleuchten. Der Soziologe Eugen Lemberg hat 1950 von der „Entstehung eines neuen Volkes aus Binnendeutschen und Ostvertriebenen“ gesprochen. Tatsächlich blieb z.B. von der konfessionellen Struktur in Deutschland nichts mehr so, wie es weithin seit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 gewesen war.

    Das „unsichtbare Fluchtgepäck“, wie es die Dichterin Gertrud Fussenegger nannte, war auch technisches, handwerkliches, landwirtschaftliches oder akademisches know how. Hinzu kam sieben-, achthundertjährige eigenständige kulturelle Identität und Erfahrungen im Neben- und Miteinander mit slawischen, madjarischen, baltischen oder rumänischen Nachbarn. Die Heimatvertriebenen haben interkulturelle Kompetenz hierher getragen. Mit ihrem frühen Bekenntnis zu einem Europa, in dem die Völker in Frieden miteinander leben, waren sie den meisten Menschen in Deutschland voraus. Warum? Sie wissen intensiver als viele andere, dass Europa nicht an Oder und Neiße oder am Bayerischen Wald endet. Der französische Politikwissenschaftler Alfred Grosser hat die Integration der Vertriebenen als die größte sozial- und wirtschaftspolitische Aufgabe bezeichnet, die von Deutschland gemeistert worden sei. Dem kann man nur zustimmen. Dennoch ist diese grandiose Leistung hier im Lande praktisch unverarbeitet.

Drittens

  • gehören unverzichtbar zum ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN auch Vertreibung und Genozid an anderen Völkern, insbesondere in Europa. Allein in Europa waren bzw. sind 35 Volksgruppen von solchen Menschenrechtsverletzungen betroffen. Von den Albanern, Armeniern, Azeris über die Esten, Georgier, Inguschen, Krim-Tartaren, Polen, Tschetschenen, Urkrainern bis zu den Weißrussen und griechischen Zyprioten und die singuläre Verfolgung und Massenvernichtung der Juden Europas durch den Nationalsozialismus.

    Über den Genozid 1914/15 am armenischen Volk durch das Osmanische Reich hat die Völkergemeinschaft indolent hinweggesehen. Ethnische „Flurbereinigung“ durch Zwangsumsiedlungen wurden 1922 selbst vom Völkerbund nicht nur geduldet, sondern selbst beschlossen und Hitler kalkulierte mit dem Desinteresse der Völkergemeinschaft bei seinen horriblen Vernichtungsplänen. „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier“ äußerte er 1939 und setzte Schritt um Schritt sein grausames Werk an den europäischen Juden, für das Auschwitz zum Synonym wurde, fort.

    Er öffnete die Büchse der Pandora vollständig. Und so gab es auch nach ihm kein Halten. Der Genozid an den Jugoslawiendeutschen, Todeslager für deutsche Zivilisten in Polen, der Tschechoslowakei, der Sowjetunion und millionenfache Vertreibung von Deutschen reichten bis 1948/49. Die Vertreibung der Ostpolen durch Stalin und auch die der Ungarn durch Benesch fallen in diesen Nachkriegszeitraum.

    Die Absurdität nationalistischen und rassistischen Denkens jener Epoche wird am Leben des Sudetendeutschen Oskar Schindler deutlich. In seinen Papieren findet sich ein Brief an den berühmten Filmregisseur Fritz Lang. Schindler, der Mann, der 1200 Juden mit Mut und Einfallsreichtum das Leben rettete, notiert darin zum Schicksal seines besten Freundes: „Er wurde im letzten Kriegsjahr als Halbjude erkannt und aus der Wehrmacht ausgestoßen. Die Tschechen haben ihn in Prag, wo er dann lebte, bei Kriegsende als deutschsprechenden Zivilisten erschlagen."

    Auf dem Balkan und in Tschetschenien sehen wir bis heute Bilder der Gewalt, getrieben von Rache und Vergeltung in einem Teufelskreis. Von anderen Kontinenten gar nicht zu sprechen. Gründe der Rechtfertigung dafür werden immer wieder gesucht. Es gibt sie nicht! Vertreibung und Genozid lassen sich niemals rechtfertigen. Sie sind immer ein Verbrechen, sie widersprechen den Menschenrechten und sie verharren im archaischen Denken von Blutrache. Das wollen wir nicht achselzuckend hinnehmen, sondern immer wieder mahnen und die Menschen bewegen, mitzufühlen und Anteil zu nehmen. Alle Opfer von Genozid und Vertreibung brauchen einen Platz in unseren Herzen und im historischen Gedächtnis. Einen solchen Platz wollen wir mit der Stiftung ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN geben. Wir wollen deutlich machen, dass Menschenrechte unteilbar sind. Unverzichtbar gehört der Dialog mit unseren Nachbarvölkern dazu.

Viertens

  • gehört zu den Stiftungsaufgaben die Verleihung eines Preises, mit dem Menschen ausgezeichnet werden, die durch ihr Handeln das Verantwortungsbewußtsein schärfen. Der Preis kann an Einzelpersonen, aber auch an Initiativen oder Gruppen verliehen werden, die sich gegen die Verletzung von Menschenrechten durch Völkermord, Vertreibung und die bewußte Zerstörung nationaler, ethnischer oder religiöser Gruppen gewandt haben.

    Insofern erfolgt die Preisverleihung auf der Grundlage des IV. Haager Abkommens von 1907, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, des Internationalen Paktes von 1966, der Entschließung der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen von 1998, aber auch der Kopenhagener Kriterien des Europäischen Rates von 1993.

    Wer in diesem Sinne beispielgebend politisch, künstlerisch, philosophisch oder durch praktische Leistungen gewirkt hat, kann durch diesen Preis ausgezeichnet werden.

    Was aber ist ein Preis ohne Namen? Wir haben uns für „Franz-Werfel-Menschenrechtspreis“ entschieden. Das ist ein hoher Anspruch, dessen sind Prof. Glotz und ich uns bewußt. In diesem Namen verzahnt sich europäische Geschichte. Der große jüdische Lyriker und Romancier deutscher Zunge wurde 1890 in Prag geboren, mußte 1938 emigrieren und starb 1945 in der Emigration. Hätte er das Kriegsende erlebt, wäre es ihm wohl ebenso ergangen, wie dem sudetendeutschen Sozialdemokraten Wenzel Jaksch, der niemals aus der Emigration in seine tschechoslowakische Heimat zurückkehren konnte, obwohl er loyaler tschechoslowakischer Staatsbürger war.

    Darüber hinaus hat Franz Werfel ganz unzeitgemäß dem dahingemordeten armenischen Volk mit seinem großen Roman „Die 40 Tage des Musa Dagh“ ein einzigartiges literarisches Denkmal gesetzt. Aber auch die Probleme seiner böhmischen Heimat trieben ihn um. Über das „Dreivölkerland, Böhmerland“ schrieb er: „Deiner Stämme Zahl, Deutsche, Slaven, Hebräer, umarmt einander in inbrünstiger Feindschaft. Aber vielleicht sieht Gott nur die Umarmung und nicht die Feindschaft.“

Die Jury hat sich im Januar in großer Einmütigkeit für die Verleihung eines Doppelpreises entschieden.

Die einen Preisträger sind gemeinsam als Gruppe die tschechischen Initiatoren des „Kreuz der Versöhnung“ im tschechischen Wekelsdorf: Věra Vítová, ehemals Bürgermeisterin von Wekelsdorf, Jan Piňos, Vorsitzender von TUZ se, Broumovsko!, Petr Kulíšek, Vorsitzender von INEX und der andere Preisträger ist als Einzelperson Dr. Mihran Dabag, Leiter des Instituts für Diaspora- und Genozidforschung an der Ruhr-Universität Bochum.

Damit würdigt die Jury zum einen eine mutige Tat in einem bis heute besonders schwierigen Umfeld und zum anderen die wissenschaftliche Arbeit an einem fast vergessenen Genozid, dem Schicksal des armenischen Volkes.

Bei dieser ersten Preisvergabe haben beide Preisträger auf jeweils unterschiedliche Weise eine besondere Beziehung zu Franz Werfel, dem Namensgeber des Menschenrechtspreises. Mit den tschechischen Preisträgern ist eine Bindung an Werfels Heimatregion und das Schicksal der Sudetendeutschen gegeben. Und mit dem Wissenschaftler ist ein Preisträger ausgewählt worden, der sich wie Franz Werfel in seinem Roman „Die 40 Tage des Musa Dagh“ des Genozids an den Armeniern widmet.

Auch die musikalische Umrahmung passt sich dem Namensgeber unseres Preises an. Anton Reicha gehört zu den großen böhmischen Komponisten. Herzlichen Dank den Bläsersolisten des Radio-Sinfonie-Orchesters Frankfurt.

Unter den Gästen befindet sich heute auch der tschechische Bildhauer Petr Honzatko. Ihm gilt ein besonderer Gruß. Er ist der Schöpfer des Mahnmals „Kreuz der Versöhnung“ und hat damit dem Gedanken und dem Wollen der Initiatoren beeindruckende künstlerische Gestalt gegeben. Aber nicht nur das. Nach jeder Schändung durch Hassparolen, Hakenkreuze oder Zerstörungsaktionen wie vor wenigen Tagen wieder, macht er sich unverzüglich daran, die entstandenen Schäden auszubessern und die Skulptur zu säubern. Herzlichen Dank dafür.

Prof. Peter Glotz und ich danken allen Mitgliedern der Jury für die Bereitschaft mitzuwirken und für eine wirklich gute Wahl. Mit dem früheren estnischen Präsidenten Lennart Meri und dem ungarischen Dichter und bisherigen Präsidenten der Akademie der Künste, György Konrad, haben zwei bedeutende Repräsentanten europäischer Nachbarvölker mitgewirkt. Wir begrüßen unsere heute anwesenden Juroren Dr. Helga Hirsch und Dr. Otto von Habsburg, der den paneuropäischen Gedanken eingebracht hat, ebenso herzlich wie Dr. Ralph Giordano, der gleich als Laudator zu hören sein wird. Und ich danke allen für den Vorschuß an Vertrauen, der mir entgegengebracht wurde.

Wir brauchen und wir wollen ein versöhntes Europa, in dem die Völker friedvoll miteinander leben können. Unsere europäischen Völker leben bewußt oder unbewußt auf einem gemeinsamen kulturellen Fundament. In schöpferischem Geist erwuchsen über die Jahrhunderte Musik, Literatur, Philosophie, Baukunst und Malerei. Die Menschen unseres Kontinents verbindet unendlich viel mehr als sie trennt, trotz der Verwerfungen des 20. Jahrhunderts.

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind eng miteinander verwoben für unsere Völker.

Günter Grass und der polnische Journalist Adam Michnik haben in großer Einheit festgestellt, dass historische Versöhnung nicht stattfinden kann, wenn düstere Kapitel der Vergangenheit tabuisiert werden.

Dazu gehört die Vertreibung von Menschen, dazu gehört der Genozid an Völkern. Wir müssen uns unserer Vergangenheit gemeinsam stellen, der guten und der schwierigen, um eine auf Dauer friedvolle und fruchtbare Zukunft zu gewinnen. Dazu wollen wir mit dem ZENTRUM GEGEN VERTREIBUNGEN beitragen und dazu wollen wir heute mit der Verleihung des Franz-Werfel-Menschenrechtspreises ein Zeichen setzen.

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