Franz-Werfel-Menschenrechtspreis 2003

Ralph Giordano, Journalist, Publizist, Schriftsteller und Regisseur

Laudatio anlässlich der Verleihung des Franz-Werfel-Menschenrechtspreises vom Zentrum gegen Vertreibungen in der Frankfurter Paulskirche am 29. Juni 2003 an Dr. Mihran Dabag.

Anrede

Am 24. April 1915 lässt der Innenminister des Türkisch-Osmanischen Reiches, Talaat Bey, in Konstantinopel Hunderte armenischer Notabeln verhaften – sie werden nie wiederkehren.

Am 27. Mai folgt der Befehl zur Deportation der Armenier. Begründung: Abwehr drohenden Verrats, Aufstandsgefahr, Hilfe für den Feind – die Pforte war am 1. November 1914 an der Seite Deutschlands und seiner Verbündeten in den Ersten Weltkrieg eingetreten.

Der Befehl setzt in Ostanatolien, in der Schwarzmeer-Region und in Kilikien, später auch im europäischen Teil des Osmanischen Reiches, viele Hunderttausend Armenier beiderlei Geschlechts und jeden Alters in Bewegung – Beginn einer der größten Völkertragödien in der geschriebenen Geschichte.

Die menschliche Phantasie reicht nicht aus, sich die Schreckensbilder vorzustellen, die sich nun zwischen Trapezunt und Aleppo, Kesaria und Van abspielen. Unterwegs angefallen von Gendarmen, Soldaten, Räubern und eigens zu diesem Zweck entlassenen Sträflingen, werden die Deportierten, mit meist nicht mehr als den Kleidern auf dem Körper, in unübersehbaren Kolonnen aus ihren Wohnsitzen über Gebirge und Flüsse den Wüsten Syriens und Mesopotamiens zugetrieben.

Gewalttaten, wohin das Auge blickt.

Tod durch Pfählen, Abhäuten und Verbrennen bei lebendigem Leibe; Massenvergewaltigungen: In der Schlucht von Kemal Bog, hoch über dem Euphrat, binden sich Frauen und Mädchen zu Hunderten aneinander und stürzen sich, eine die nächste mit sich reißend, gemeinsam in die Tiefe. Kinder sterben an der Brust ihrer verzweifelten Mütter; andere Mütter verlieren den Verstand über ihre toten Kinder; andere Kinder begreifen nicht, dass ihre Mütter gestorben sind, während ihnen selbst, kaum geboren, schon der Tod ins Gesicht geschrieben steht. Nur ein Bruchteil der Deportierten erreicht die Wüstenlager – Homs, Hama, Der-es-Sol, Mossul.

Ende 1915 ist das Gros der Armenier im Türkisch-Osmanischen Reich vernichtet. Die Opferziffern schwanken zwischen 800 000 und 1,5 Millionen. „La question armenienne n ´ existe plus“, so Talaat Bey am 4. September 1915 – „Die armenische Frage existiert nicht mehr.“

Der Völkermord an den Armeniern ist schriftlich überwältigend dokumentiert, im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes, Akte Türkei 183, Band 36 bis 46 – Hunderte und aber Hunderte amtlicher Schreiben der deutschen Botschaft in Konstantinopel-Pera an den Kanzler des Deutschen Kaiserreichs in Berlin, Theobald von Bethmann Hollweg. Eine nahezu lückenlose Chronik des Grauens, aufgezeichnet vom deutschen Bundesgenossen, der alles wusste, aber Gewehr bei Fuß stand, ohne einzugreifen. Ich habe sie Blatt um Blatt eingesehen, die Akte, eine Lektüre, bei der immer wieder Pausen eingelegt werden mussten, weil kein Mensch diese Zeugnisse eines nahezu kollektiven Untergangs in einem Zug hätte durchhalten können. – Nicht jeder gewaltsamen Verpflanzung großer Menschenmassen aus ihrer angestammten Heimat an einen anderen geographischen Ort muss die Absicht eines Genozids zugrunde liegen. Insofern sind Vertreibung und Völkermord, sind Ursachen und Absichten der jeweiligen Täter keineswegs von vornherein miteinander identisch. Diese Vertreibung aber, die armenische, war ein Völkermord – und sein Instrument: die Deportation. Was nicht nur schriftlich, sondern auch optisch belegt ist. Durch Armin T. Wegner, einen Sanitätsgefreiten und später leidenschaftlichen Nazigegner, der im Stabe des Feldmarschalls von der Goltz auf dem Marsch von Konstantinopel nach Bagdad durch das Deportationsgebiet zog. Trotz strikten Verbots machte Wegner unter Lebensgefahr Aufnahmen, deren Originale ich im Deutschen Literaturarchiv zu Marbach am Neckar einsehen konnte – Fotos, die sich nur mit denen vergleichen lassen, die die Alliierten gegen Ende des Zweiten Weltkrieges bei der Befreiung der Konzentrationslagern machten.

Die Mitverantwortung des kaiserlich-deutschen Bundesgenossen durch Passivität steht außer Frage, doch nichts regte sich, weder während des Genozids noch danach – und das bis heute. Der Chronist kann hier vermelden, dass keiner deutschen Regierung in den fast 90 Jahren seither anderes eingefallen ist, als zu schweigen. Darin nur noch übertroffen von einer Türkei, die, abermals Bundesgenosse, den Völkermord an den Armeniern konsequent leugnet. Und das in der Erwartung: „Das Problem“ werde sich von selbst lösen.

Es ist die Hoffnung auf die armenische Auflösung in der armenischen Diaspora. Und tatsächlich geht es, wie die Weltkarte dieser Diaspora ausweist, um das ethnische, das kulturelle und letztlich auch um das biologische Überleben von Armeniern in der Fremde. Mir scheint kein Volk in der Wurzel so gefährdet zu sein, wie das außerhalb der kleinen GUS-Republik global verstreute armenische.

Das ist die Tragödie, in die sich mein Laudandus gestellt sieht, einer der etwa vierzigtausend armenischen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland: Doktor Mihran Dabag – geboren 1944 als Sohn überlebender Eltern. Äußere Daten: Schule im Rahmen eines armenischen Stipendienprogramms in Istanbul; dann der lebensbestimmende Wechsel nach Deutschland – die Universitäten Bonn und Bochum -, dort Promotion im Fach Philosophie.

Wissenschaftliche Schwerpunkte seiner Arbeit: „Sozialanthropologie“, „Konflikt-, Friedens- und Entwicklungsforschung“. Seit 1994, zusammen mit seiner Lebensgefährtin Kristin Platt, Aufbau des „Instituts für Diaspora und Genozidforschung“ an der Ruhr-Universität Bochum.

Es ist ein völlig als Aufgabe begriffenes Dasein, von Mihran Dabag selbst in die Schlüsselform gebracht: Als Kind von Überlebenden habe er durch das eigene Leben eine Schuld abzutragen. Und das, so fährt er fort, „mit Identitätsunsicherheit und dem Wissen um den Verlust armenischer Identifizierung.“ Und dennoch, eine Identifikation ist da, eine unverbrüchliche – die mit den Opfern. So lernte ich Migran Dabag kennen – bei den Vorbereitungen meiner im April 1986 von der ARD/WDR ausgestrahlten Fernsehsendung „Die armenische Frage existiert nicht mehr – Tragödie eines Volkes“.

Ich hatte schon kurz nach meiner Befreiung am 4. Mai 1945 durch die 8. Britische Armee in Hamburg Franz Werfels Buch „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ gelesen, und in den folgenden Jahrzehnten erlebt, wie zwar der Holocaust immer tiefer in das Weltbewusstsein drang, der Völkermord an den Armeniern darin jedoch ein weißer Fleck blieb.

Nach der Begegnung mit Mihran Dabag machte ich die armenische Sache zu der meinen.

Seither sind fast zwanzig Jahr vergangen, und ich sage bei vollem Bewusstsein und klarem Verstand: Mir ist niemand bekannt, keiner, der seine Person so eingeboren hinter die Aufgabe stellt, die Mihran Dabag – und ich nehme mich selbst dabei nicht aus. Darin, wie dieser Kärrner der armenischen Sache es tut, ist er für mich, den weit Älteren, ein Vorbild – und ich bringe das heute in diese öffentliche Stunde ein.

Das ist etwas Unentfernbares in ihm – seine innere Bindung, mehr, seine Amalgamierung mit den geraubten Leben, den vielen, vielen geraubten armenischen Leben. Sie sind der Kompass seiner Erinnerungsarbeit – wie Auschwitz der meine.

In diesem Freund, eher publicityscheu still, entdeckte ich etwas ebenso Dauerhaften wie Kostbaren: eine urwüchsige Bescheidenheit und Zurückgenommenheit, die Stigmata seiner Ehrlichkeit – bei ewiger Flamme. Wenn das Bild von der an beiden Enden brennenden Kerze auf jemanden zuträfe, dann auf niemanden mehr als auf Mihran Dabag.

Am Morgen des 22. April 1986, dem Tag nach der Ausstrahlung meiner Sendung „Die armenische Frage existiert nicht mehr – Tragödie eines Volkes“, rief er mich an und sagte: „Als ich heut vor die Tür trat, sah die Welt vollkommen anders aus als gestern.“

Es war das schönste Kompliment, das ein Freund dem andern für die gemeinsame Sache machen konnte.

Er wird sich wahrscheinlich nicht sehr wohlfühlen bei meiner Eloge, aber sie wird von mir abgelegt mit dem besten Gewissen der Welt, und jener Ergänzung, die in jede Laudatio gehörte, nämlich: „Sollte der Laudandus tatsächlich auch dunklere Seiten haben, so hat er es mit einer geradezu an Genialität grenzenden Umsicht verstanden, sie vor dem Laudator verborgen zu halten.“ Will mit alledem nichts anderes sagen, lieber Freund und Bruder, als dass mein Vertrauen in Deine Standhaftigkeit unerschütterlich ist.

Du wirst sie brauchen, denn strapaziert wird Dein Leben bleiben, und das oft genug bis an die Zerreißgrenze – ist der Völkermord an den Armeniern von 1915/16 doch nach wie vor ein weißer Fleck.

Einer hatte damit gerechnet, einer hatte es in schrecklicher Prophetie vorausgesagt: Hitler!

Am 22. August 1939, also am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, erklärte er vor den versammelten Kommandeuren seiner SS-Todesschwadronen und der Wehrmachtsgeneralität:

„Dies wird kein Krieg wie vorangegangene Kriege, dies wird ein Krieg gegen Mann, Weib und Kind“ – um dann fortzufahren: „Wer erinnert sich heute noch an die Vernichtung der Armenier?“.

Zehn Tage später, am 1. September 1939, kommt ein Novum in die Menschheitsgeschichte, etwas, das jedes bis dahin vorstellbare Fassungsvermögen übersteigt – das System des Unbedingten, ein staatlich instituierter Kosmos der Mitleidlosigkeit bricht mit Waffenwelt über die nationalen Grenzen und wirft sich auf Europa und die Welt! Was bedeutet: Nichts, was Menschen angetan werden kann, ist mehr unmöglich – nichts. Darunter der organisierte Erstickungstod von Millionen, als eine Form des industriell betriebenen Massen-, Serien- und Völkermords nach den Methoden der Ungeziefervertilgung- „Mann, Weib und Kind“. Die da Menschen das Recht absprechen, auf der Erde zu sein, dabei kontinentale Ausrottungs- und Versklavungspläne entwerfen und praktizieren, sind keine Bestien – es sind Techniker, Familienväter, Soldaten, Beamte, ordinary people; eine beispiellose Täterschaft, die nur am Kriegsverlauf scheitert, aber die These vom „Tausendjährigen Reich“, wenn auch nicht im Sinne ihrer Schöpfer, bis in fernste Zukunft wach halten wird.

Was dann, am Ende der Apokalypse, über die Deutschen selbst kam, namentlich im Osten, war fürchterlich – ein ungeheurer Hassstau machte sich Luft: Totschlag, Mord, Massenvergewaltigung, Verschleppung und – Vertreibung.

Heute wird Mihran Dabag eine Auszeichnung annehmen vom „Zentrum gegen Vertreibungen“ – auf meinen Vorschlag als Juror des ersten „Franz-Werfel-Menschenrechtspreises“.

Problemlos war diese Akzeptanz nicht, und wir bitten beide deshalb das Auditorium um wenige Minuten mehr Sprechzeit als die ausgemachten 15 – halten zu Gnaden. Aber wir wollen Klarheit und Ehrlichkeit.

Initialzündung der Verbindung war ein Telefongespräch der Vorsitzenden des Zentrums gegen Vertreibungen und Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Frau Erika Steinbach, nach einer Publikation von mir über die Charta der deutschen Heimatvertriebenen. Trotz kontroverser Standpunkte ein überraschend langes Gespräch, mit beiderseitiger Neugierde; danach weitere Telefonate; eine erste Begegnung; wechselseitige Sympathien, die gut taten. Und doch ein Kontakt mit einem bis dahin eher ungewohnten Topos. Das Leid der Vertriebenen zwar war mir nie gleichgültig, wofür meine tiefe Affinität zu Ostpreußen bürgt, und die Integrierung der Vertriebenen mir als beispiellose Leistung vollkommen bewusst. Aber da waren auch lange Erfahrungen meinerseits mit einer Verbandspolitik, die für mich gekennzeichnet war von irritierender Verdrängung der Vorgeschichte der Vertreibung; offensichtlich tiefen Berührungsängsten gegenüber der Nazizeit und ihren Verstrickungen; einseitiger Anklage über deutsches Leid danach, ohne erkennbar innere Beziehung zu deutschverursachtem Leid davor. Und nun dies...  In dem Gefühl: „Hier hat sich etwas geändert“, ergriff ich die ausgestreckte Hand und trat der Jury des „Franz-Werfel-Menschenrechtspreises“ bei.

Als das bekannt wurde, gab es öffentliche und interne Unruhe, Aufgebrachtheit, Kritik und Warnungen vor Instrumentalisierung – Stimmen, die Mihran Dabag und ich keineswegs leicht nehmen, besonders die jüdischen nicht. Deshalb an dieser Stelle unser beider Credo:

„Die Humanitas ist unteilbar! Die Vorgeschichte der Vertreibung rechtfertigt kein einziges Verbrechen, keine einzige Menschenrechtsverletzung an den Vertriebenen. Aber ohne die Vorgeschichte der Vertreibung hätte es kein einziges Verbrechen an Vertriebenen, keine einzige Menschenrechtsverletzung, keine Geschichte der Vertreibung gegeben! Wer die Vorgeschichte der Vertreibung verdrängt, verstößt gegen die Unteilbarkeit der Humanitas, wie der, der die Nachgeschichte ausblendet.“

Sie, diese Unteilbarkeit, ist unsere „Charta“, und wir bestehen beide auf ihrer Chronologie und ihrer Kausalität. Und das in Übereinstimmung mit jener Stelle in der berühmten Rede Richard von Weizsäckers im Deutschen Bundestag vom 8. Mai 1985, in der es heißt: „Die Ursachen für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit liegen am Anfang, nicht am Ende des Krieges“, und weiter: „Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.“ Das korrespondiert mit der Formulierung der Vorsitzenden des „Zentrums gegen Vertreibungen“: „Es war Hitler, der die Büchse der Pandora geöffnet hat...“ (allerdings, das sei hier angemerkt – Auschwitz hätte sich Pandora, dir für alle Übel zuständige antik-griechische Göttin, wohl kaum vorstellen können). Aber dieses Wort der Vorsitzenden hat die Annäherung gefördert, mehr jedoch noch wird Mihran Dabags und meine Anwesenheit erklärt durch die Antwort, die Sie, sehr geehrte Frau Steinbach, auf den Vorwurf fanden, ihre Interpretation von Vertreibung habe den Holocaust relativieren wollen:

„Davon kann überhaupt keine Rede sein“, schrieben Sie, „weder die Vertreter der Stiftung noch ein Mitglied der Jury haben jemals die Einmaligkeit des Massenmords an den Juden durch die Nationalsozialisten bezweifelt.“

Mihran Dabag und ich stehen an dieser erhabenen Stätte, weil wir die Witterung einer Veränderung aufgenommen haben wollen, an der wir teilhaben möchten, eine von uns lange nicht für möglich gehaltene Entwicklung, die einen Vertriebenen der ersten Stunde, den Juden Franz Werfel, zum Namensträger eines Menschenrechtspreises gemacht hat, heute einen Nachfahren von Überlebenden des Völkermords an den Armeniern ehrt und die Laudatio dafür einem Überlebenden des Holocaust anvertraut. Hätten Laudandus und Laudator sich instrumentalisiert gefühlt, stünden sie nicht hier. Gleichwohl das Geständnis, dass ein Stück Unsicherheit bleibt, wenn, wie erst kürzlich wieder auf einem Vertriebenentreffen von „offenen deutschen Wunden“ gesprochen wird, ohne auch nur mit einer Silbe die Wunden zu erwähnen, die zuvor von Deutschen geschlagen worden und ebenfalls noch offen sind – ein Zusatz, der fehlte. Er lässt uns verunsichert fragen, wie hoch die alte Verdrängungsschwelle, jedenfalls punktuell, immer noch ist.

Wir plädieren für Aussöhnung durch Wahrhaftigkeit auf beiden Seiten, begrüßen daher die jüngste Stimme aus Prag, und appellieren an Kritiker und Warner aus den ehemals deutsch besetzten Ländern Mittel- und Osteuropas, ihrerseits zu überprüfen, ob da, wo es schmerzhaft wird, auch für sie das Geheimnis der Erlösung – Erinnerung heißt, und – die Humanitas unteilbar ist.

Eben weil sie es ist, will ich das Recht haben, über deutsches Leid erschüttert zu sein. Wenn ich im Zuge der Vertreibungen Menschen verprügelt oder niedergeschlagen am Boden sehe, namentlich auf jenem mir unvergesslichen Fotos, auf dem ein Mann mit blutendem Kopf hilflos in die Kamera aufschaut – dann möchte ich hin zu ihnen und ihre Wunden verbinden. Ebenso, wenn ich sehe, dass Menschen winters in offene Güterwagen verladen werden – auch dann ist in mir nichts, als der vegetative Wunsch; Hin zu ihnen, hin und das eigene Hemd ausziehen, um sie zu wärmen. Und wenn ich dabei Kinder sehen, die, wie Kinder immer, schuldlos sind, doch nun voller Verstörung in die unbegreifbare Welt der Erwachsenen schauen – dann weine ich. Was nicht um eine den Strom der Tränen mindert, die ich vergossen habe, vergieße und bis an mein Ende vergießen werden über die Opfer des Holocaust und die nichtjüdischen Ermordeten, Sinti, Roma, Slawen – Menschen aus fünfzehn besetzen Nationen.

Nein, ich entlasse Hitler und seine Anhänger nicht aus der Primär-, der Erstverantwortung für jeden Zivil- und Militärtoten des von ihnen ausgelösten Zweiten Weltkrieges, wie auch für Flucht, Gebietsverluste und Vertreibung. Ich habe damals auf diesem, und keinem andern Planeten gelegt, ich war Zeuge der bestürzenden Empfänglichkeit für den braunen Ungeist hierzulande, Zeuge auch eines gleichfalls bestürzend raschen Verlustes an humaner Orientierung, und ich frage mich immer noch, bis heute: „Hast du das wirklich überlebt?“ Ja – wenn auch mit offenen Wunden bis an mein Ende. – Aber so wenig, wie ich mir heute das Recht auf Kritik oder Zustimmung an der Politik von Vertriebenenverbänden nehmen lassen will, so wenig will ich mich verhärten, wenn ich das Elend der Deutschen von damals sehe, und das auch dann nicht, wenn sie in der bedrohtesten Zeit meines Lebens auf der Gegenseite gestanden haben – nun aber wehrlos waren.

Ich denke dabei immer an das leuchtende Beispiel des großen russischen Humanisten Lew Kopelew, meines alten, verstorbenen Freundes, der viele Deutsche vor Willkürakten von Rotarmisten geschützt hat. Mögen sie während des Vormarsches über die Erde ihrer zerstörten Heimat auf tausend Gründe für Rache und Vergeltung gestoßen sein – der Offizier der Sowjetarmee Lew Kopelew hatte diese Gründe ebenfalls. Und entscheid doch: Gegen Wehrlose keine Gewalt! Ein Prinzip, dem Kopelew bekanntlich die Freikarte für eine vieljährige GULaG-Odyssee zu verdanken hatte: Seine Post wurde abgefangen – und sein Herz für den geschlagenen Feind ihm selbst zum Verhängnis. Ich predige hier keine Nächstenliebe, ich will nur kein schlechtes Gewissen haben, will mich nicht schämen, die Fassung zu verlieren, wenn ich Deutsche von damals leiden sehe – ob auf der Flucht, als Ausgebombte oder als Vertriebene – und ich will diese Fähigkeit behalten, so lang ich atme. – Die schönsten Briefe meines Schriftstellerdaseins habe ich übrigens von Vertriebenen erhalten. In meinem Buch „Ostpreußen ade – Reise durch ein melancholisches Land“ heißt es, der Autor dabei unter den Märchenwipfeln masurischer Alleen: „Wie hält man es aus, eine Heimat wie diese verlassen zu müssen, ohne dass einem das Herz bricht?“.

Ja, wie nur...?

Helfen Sie, helfen wir alle, dass es nie wieder zu einer solchen Frage kommen wird.

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